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Willehalm-Kodex
Signatur: 2° Ms. poet. et roman. 1
Die Handschrift überliefert die vollständige Willehalm-Trilogie: Ihr Kernstück, näm
lich das unvollendete Willehalm-Epos Wolframs von Eschenbach, gedichtet um 1220,
ferner die umfangreiche Fortsetzung, den Rennewart Ulrichs von Türheim (um 1230)
und schließlich die Vorgeschichte, die Arahel Ulrichs von dem Türlin, verfaßt um 1260/
70. Die Trilogie ist in Kassel außer durch den Willehalm-Kodex auch noch durch zwei
Fragmente aus einer zerschnittenen Foliohandschrift vertreten (Nr. 27 und 28). Das
wirft ein Licht auf die Überlieferungslage: Mit heute bekannten 71 Textzeugen (12
vollständige Handschriften und 59 Fragmente) gehört der Willehalm zu den nächst
Wolframs Parzival am häufigsten überlieferten Dichtungen des Hochmittelalters.
Der Kasseler Kodex zeigt schon von der Anlage her typische Merkmale der Willehalm-
Überlieferung. Immer wieder ist dieser Stoff - eine Episode aus den Sarazenenkämpfen
in karolingischer Zeit ist Gegenstand der Dichtung - in repräsentativen Bilderhand
schriften gestaltet worden. So u. a. in einer Wiener Handschrift, Cod. 2670 der
Österreichischen Nationalbibliothek, der textlich im Wolfram-Teil dem Cassellanus
nahe verwandt ist. Dabei hat es wohl keinen für den Stoff verbindlichen Bilderzyklus
gegeben, sondern jede Werkstatt, bei der eine solche Handschrift in Auftrag gegeben
wurde, scheint sich hier unabhängig gefühlt zu haben und konnte sogar, wenn eine
bebilderte Vorlage bereits vorhanden war, selbst von der Vorlage abweichende Szenen
für die Illustrierung auswählen.
Immer wieder begegnen bei Handschriften, die diesen Stoff überliefern, vergleichbare
äußere Merkmale: Feines, fast fehlerloses Pergament ist das Material, auf das in
sorgfältiger Buchschrift geschrieben wird, jeweils in zwei Kolumnen, mit abgerückter
Majuskel am Beginn jeder Zeile und sauber abgesetzten Verszeilen. Deren Zahl wird
regelmäßig eingehalten. Die Bilder, meist in niedrigem Breitformat, sind in den
Schriftspiegel einbezogen und gerahmt, reichen über eine Spalte, gelegentlich auch über
beide und greifen weit auf die Ränder über; sie haben Gold- oder Teppichhintergründe.
Dabei ragen Gegenstände aus dem Bild heraus: Fahnen, Lanzenspitzen, oder es werden
Teile des Rahmens durch Architektur ersetzt.
Mit den fertiggestellten Miniaturen in den Anfangslagen der Kasseler Handschrift, die
in ihrer strahlenden Farbigkeit und dem festlichen Glanz des großzügig verwendeten
Goldes heute noch fast so frisch wirken wie zur Zeit ihrer Entstehung, ist uns ein
Höhepunkt spätmittelalterlicher Buchmalerei des höfisch-eleganten Stils erhalten.