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Sicherlich und viel eher möchten wir annehmen, daß sich Wigands akademisch
geschulte, wenn auch provinziell begrenzte Gelehrsamkeit mit seinem Bestreben traf,
einerseits sich dem ihm persönlich gut bekannten Landgrafen Wilhelm III. (1483-1500)
teuer, diesen aber andererseits nachdenklich zu machen, indem er ihm ganz sachlich den
Spiegel der Geschichte vorhielt.
Wilhelm III. von Hessen-Marburg, ein sehr junger und durchaus nicht unliebenswürdi
ger Landesvater, schätzte mehr die Jagd als das Regieren und kümmerte sich herzlich
wenig um Wohl und Wehe seiner Untertanen. Es war also nicht mißzuverstehen, wenn
Wigand in seiner Chronik vom Thüringer Landgrafen Ludwig IV. (reg. 1217-27,
genannt der Eiserne, Gemahl der hl. Elisabeth) auf Bl. 132 schreibt, er sei in seiner
Jugend . . . gütlich, frolich, lichtsynnig vnde wilde gewesen. Seine Räte hätten ihm, um
selber ungestörter schalten und walten zu können, geraten ... er suite jagen vnde von
eyme slosse zum andern ryten, vnde ensulde nicht sin houht zubrechin (zerbrechen).
Das war deutlich. Wilhelm, für den die Handschrift bestimmt war, nahm es ihm nicht
weiter übel, wie sich aus den Urkunden schließen läßt. Übrigens muß sich die
Handschrift nach Wilhelms Tod (1500) noch in Wigands Hand befunden haben, denn er
setzte sie ja bis 1515 fort.
Der Text ist in zwei Hauptabschnitte gegliedert: in die gemeinsame thüringisch
hessische Zeit vor 1247 und ab Bl. 266 r in die Geschichte Hessens unter dem Hause
Brabant. Dazu kommen die Wunder der hl. Elisabeth (Bl. 219 r -244 r ), die Wunder des
sei. Ludwig (Bl. 245 r -258 v ) und die Tugenden des Bruders Kurt (Bl. 259 r -260 v ).
Wigand läßt seine Geschichte bei Alexander beginnen, der Landesherr gewesen sei; es
folgen die Römer - Caesar ist mit Krone, Zepter und Reichsapfel abgebildet (Bl. 5 V ) -
und die Franken. Ihren Reiz aber gewinnt die Handschrift durch die 45 Federzeichnun
gen von Personen, Schlachten, vom Städte- und Burgenbau (Einzelaufführung bei
Struck S. 124 f.). Wigand hatte im Kodex Raum für rund 260 Illustrationen gelassen,
von denen der unbekannte Zeichner aber eben nur ein knappes Sechstel ausführte,
ähnlich wie bei unserem Willehalm. Der Künstler beherrschte seine Technik, die
Darstellungen sind recht realistisch, detailliert, nicht ohne Sinn für das Dramatische
einer Situation, stehen jedoch noch ganz in der Tradition mittelalterlicher Buchmalerei.
Von Einflüssen der Renaissancemalerei keine Spur. Ein Vergleich etwa der Dilichschen
Ansicht von Burg Rheinfels - rund 100 Jahre später entstanden - mit dem Rheinfels der
Chronik (Bl. 274 r ) veranschaulicht den völligen Umbruch. Stadt und Burg Biedenkopf
allerdings scheinen nach der Natur gezeichnet zu sein (Bl. 287 v ). In kaum einer
hessischen Geschichte fehlte die Zeichnung Bonifatius fällt die Donareiche bei Geismar
(Bl. 36 v ).
Die Handschrift ist nicht vollständig. Zu Beginn fehlen sechs Blätter, im weiteren
Verlauf des Textes noch 20. Glücklicherweise wurde das Werk recht früh so populär,
daß zahlreiche Abschriften genommen, durch Ayrmann 1746 und J. Ph. Kuchenbecker