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„Was ist denn geschehen, Engelhardt?"
„Ach, denken Sie sich, wurde uns da vvr
kaum einer Stunde seitens der Polizeibehörde ein
Mann zugeführt, der ans der Landstraße nahe vvr
der Stadt ermattet niedergesunken und von Passan
ten in bedauernswerthem Zustande aufgefunden
worden war. Er hat bis jetzt das Bewußtsein
noch nicht wieder erlangt, und es ist nach Aus
sage des Arztes nicht anzunehmen, daß er dem
Leben erhalten bleiben wird. Allem Anscheine
nach ist es ein Glaubensgenosse von Ihnen, denn
er trägt das „Zehugebot"*). Daher sehe ich mich
veranlaßt, Sie von dem Vorfalle in Kenntniß zu
setzen. Aber zögern Sie nicht. Ich habe mich
schon viel zu lange aufgehalten."
„Ich danke Ihnen, lieber Engelhardt; ich
werde Ihnen sofort folgen". Während Onkel Feiß
diese Worte sprach, beeilte er sich, sein „Sefer
hachajim", das ist das Buch mit den üblichen
Sterbegebeten, zur Hand zu nehmen.
Wie oft hatte er nicht, namentlich während
seiner langjährigen Thätigkeit als Schamines der
Gemeinde in A., zu ähnlichem ernsten Thun den
selben Weg zurückgelegt; wie mancher gequälten
Seele hat er durch die heiligen Sterbegebete das
Scheiden aus diesem irdischen Dasein erleichtert!
Und nun sollte er abermals einer solchen Pflicht
*) Eigentlich „Arba kanfos“, d. t. ein kleines, vier
eckiges, mit Schaufäden versehenes Gewand.