Full text: Tlavatli

„Kann sein, kann sein, Lerr Doktor, und doch weiß ich nicht recht! 
Lellwald in seiner Kulturgeschichte der Menschheit sagt einmal: „Alles 
was geschieht, ist notwendig, daß es geschieht!" Nun, eine so gewaltige 
weltumfassende Bewegung, wie es das Christentum war und auch heute 
wohl noch ist, muß doch ihren Zweck, ihre wichtige Bedeutung haben, und 
somit möchte ich für meine Person annehmen, daß die Lehre Christi, so 
verhunzt sie auch oftmals war, trotzdem rascherm Fortschritt diente. Doch 
bitte, nichts für ungut, lieber Herr Doktor!" 
„Aber gewiß nicht! Warum sollten Sie nicht anderer Meinung sein 
dürfen? And — Sie mögen sogar recht haben, ich wage es nicht zu ent 
scheiden." 
Beide Äerren zündeten sich frische Zigarren an, sie saßen still, jeder 
mit seinen Gedanken beschäftigt, einander gegenüber. Der sternenfunkelnde 
Tropenhimmel, das ruhige, gleichmäßige Stampfen der Maschine, das 
Rauschen der sich am Bug des Schiffes brechenden See, in der es hier 
und da wie phosphorleuchtend aufblitzte, alles stimmte zu einer wohligen 
Ruhe, in der man das gehörte oder gelesene Wort in sich nachklingen läßt. 
Zes Jürgen nahte sich den Beiden, ohne die geringste Erregung sagte 
er: „Je, Herr Doktor, das ist nu so! bei Ihnen in der Kabine sitzt ein 
Gespenst am Tisch und guckt sich ganz fröhlich die Seekarte an." 
„Das befremdet mich gar nicht", gab Justus gelassen zur Antwort. 
„Ansere Reise wird genügend Aufsehen in der Geisterwelt Hervorrufen. 
Äoffen will ich nur, daß nicht übelwollende Wesen unsere Absichten zu 
durchkreuzen versuchen, doch darf ich wohl Sankhas mächtigem Einfluß 
vertrauen, der uns alles Störende fernhalten wird." 
Mit offenem Munde — die Zigarre war zu Boden gefallen — 
starrte Eisenbarth von einem zum andern, schreckensbleich stammelte er: 
„Fahren wir denn auf einem Gespensterschiff? Was haben Sie vor, Herr 
Doktor?" 
In diesem Augenblick zog das Justus bereits vertraute melodische 
Klingen leise wie ein Pauch über sie hin. Ies Jürgen nahm es, wie alles 
was ihm im Leben begegnete, ruhig entgegen, Eisenbarth aber rief mit 
gesteigertem Entsetzen: „Was war das nun wieder für ein Spuk?" 
„Ein Zeichen Sankhas", entgegnete Justus. „Er will mir eine Mit 
teilung machen. Kommen Sie mit in meine Kajüte, vielleicht finden wir 
ihn dort gar selber vor." 
Ies Jürgen schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er, „der alte Indianer 
war es nicht! Das Gespenst sah wie ein Deutscher aus, er erinnerte mich 
an einen alten Kapitän aus Flensburg, den ich als Junge ganz gut ge 
kannt habe." Mit einem Blick auf Eisenbarth fügte er hinzu: „Sie müssen 
nicht solche Angst haben! Wenn der Äerr Doktor dabei ist, brauchen Sie 
sich vor nichts zu fürchten." 
Justus stieg mit Ies Jürgens die Treppe zur Kajüte hinab, zögernd 
folgte Eisenbarth, denn allein hier oben bleiben, mochte er auch nicht. 
Dann aber fühlte er etwas wie Scham. Pfui, war er denn feige? Er 
hatte doch bereits genügend von übersinnlichen Dingen vernommen, um 
ihnen tapfer entgegenzutreten. Selbsterlebt hatte er ja freilich nichts weiter 
als die mysteriöse Geschichte mit der Hängematte. „Na, oller Eisenbarth, 
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