Full text: Tlavatli

„Verehrte Anwesende! Wir sind hier versammelt, die glückliche Rück 
kehr unseres jungen Freundes, des Lerrn Dr. Justus Erich, zu feiern. Aus 
schwerer Seegefahr hat ihn der liebe Gott gnädig errettet und in das vom 
echt christlichen Geiste durchwehte Laus seines Bruders zurückgeführt. Danken 
wir dem Äerrn für seine unendliche Güte! Dir, lieber Justus, aber sei 
es ein „Mene mene tekel upharsin", lasse es an Dein Lerz pochen, er 
kenne darin Gottes eherne Land! Verehrte Anwesende, mich, den alten 
Kaufmann, den gläubigen Christen, betrübt es tief, wenn ich das zwecklose, 
zügellose Streben der jungen studierten Äerren von heute betrachte. Zweck 
los insofern, als sie mit einem Aufwand von Zeit und Geld Dinge zu 
ergründen suchen, die keinen praktischen Wert haben. Oder hätte es irgend 
einen vernünftigen Zweck Sanskritstudien zu treiben, archäologische Aus 
grabungen vorzunehmen und sonstige heidnische Dinge wieder ans Licht 
zu ziehen? — Zügellos insofern, als sie, besonders die Naturwissenschaftler, 
uns weise vom lieben Gott verborgene Geheimnisse mit frevler Land ent 
schleiern. Wieder frage ich: Liegt irgend ein vernünftiger Sinn darin, zum 
Beispiel, zu wissen, ob ein Atom schwerer als das andere ist? Ob man 
durch chemische Einflüsse biologische Veränderungen hervorrufen kann, und 
was es sonst für Torheiten mehr sind? — Auch hier wieder muß ich ant 
worten: Nein, es kommt nichts dabei heraus, als daß gutes, schwerver 
dientes Geld unnütz vergeudet wird. — Aber irret euch nicht, Gott läßt 
sein nicht spotten! So mag denn hier unser Freund den Verlust seines 
kostbaren Schiffes und die Todesgefahr, in der er sich befand, als Straf 
gericht Gottes ansehen, als Warnung, Wege zu wandeln, die ihn nur in 
die trostlose Irre führen. Möge er sich bewußt werden, daß er einem alten 
Hamburger Kaufmannsgeschlecht angehört, möge er als aktives Mitglied 
in die Firma eintreten, sein reiches Wissen und Können ihrem Wohlergehen 
widmen und aufhören, seine Persönlichkeit, sein gutes Geld für Nichts und 
wieder Nichts zu verzetteln. In diesem Sinne weihe ich ihm mein Glas!" 
„Amen", sagte Eleonore, sich an Justus wendend, „so, mein Sohn, 
da hast Du Deinen Sermon!" 
Der schüttelte leise den Kopf, der alte Junggeselle Schöneweiß blieb 
sich doch immer gleich! Justus entsann sich, daß er als siebenjähriger Junge 
einmal die Frage an ihn richtete, woraus eigentlich der blaue Äimmel be 
stünde, ob das vielleicht Papier oder Zeug sei. Da hatte ihm Schöneweiß, 
anstatt einfach zu antworten: „Das ist die Luft, die uns im Sonnenlichte 
blau erscheint, die fängt hier bei deiner Nase an und reicht einige Meilen 
nach oben, eine feste Fläche ist das nicht;" also, statt dieser einfachen physi 
kalischen Erklärung, die der Junge haben wollte, hatte er alles Mögliche 
vom lieben Gott auf goldenem Throne, von singenden Engelein, von „Äo- 
siannah" rufenden und palmenwedelnden seligen Geistern und ganz unsagbar 
herrlichen Äimmelsfreuden erzählt, die man aber nur durch ein sehr frommes, 
braves Leben erwerben könne. Der Kleine war also so klug wie zuvor, 
denn derartige religiöse Beschreibungen waren ihm nicht neu. 
Große Freude mochte die Tischrede des Äerrn Schöneweiß unter den 
Anwesenden kaum erregt haben, das verlegene Schweigen ringsum deutete 
eher auf das Gegenteil. Sogar die andere Äälfte der großen Kaffeefirma, 
Äerr W. Möllmann, jener dicke Lerr dort mit dem runden, roten Gesicht 
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