Full text: Kinder- und Hausmärchen (3)

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Zeit Moos auf ihr gewachsen war, daß fie fast dem Holze glich. 
Zuletzt aber erkannten sie die Gestalt ihres Leibes und berichteten 
ihrem Herrn da in einem hohlen Baum sitze ein Thier von mensch 
licher Gestalt, rühre sich nicht und gebe keinen Laut von sich. Der 
Fürstensohn gicng hinzu und befahl fie herauszunehmen; fie ließ 
alles geschehen, rührte keine Stimme nicht. Als sie nun anfiengen 
das Moos von ihr abzunehmen und sie zu reinigen, kam ihr weißes 
Gesicht zum Vorschein und das Kreuz auf der Stirne, daß der Fürst 
über ihre große Schönheit erstaunte und sie in allen Sprachen die er 
nur wußte, anredete, um zu hören wer fie wäre und wie sie dahin 
gerathen. Allein auf alles blieb sie stumm als ein Fisch, und der 
Fürst nahm fie mit sich heim, übergab sie den Kamerfrauen und be 
fahl fie zu waschen und zu kleiden, welches vollkommen nach seinem 
Willen geschah. War sie nun vorher schön gewesen, so strahlte sie 
in den reichen Kleidern wie der helle Tag, nur daß kein Wort aus 
ihr zu bringen war. Nichtsdestoweniger setzte sie der Fürst über 
Tisch an seine Seite und wurde von ihrer Miene und Sittsamkeit 
aufs tiefste bewegt, und nach einigen Tagen begehrte er fie zu hei- 
rathen, keine andere auf der Welt. Seine Mutter widersetzte sich 
dieser Vermählung zwar heftig, indem sie äußerte man wisse ja doch 
nicht recht ob sie Thier oder Mensch sei, sprechen thue sie nichts und 
begehre nicht es zu lernen. und von einer solchen Ehe stände nichts 
wie Sünde zu erwarten. Allein keine Einrede half, der König sprach 
'wie kann man zweifeln baß sie ein Mensch ist, die eine engelschöne 
Gestalt hat und deren edle Abkunft das Kreuz aus ihrer Stirne ver 
räth?" Mithin wurde das Beilager in Schmuck und Freuden voll 
zogen. 
Als Gemahlin des Fürsten lebte sie sittsam und fleißig in ihrem 
Kämerlein, arbeitete an dem Geräthe fort, das ihre Brüder aus dem 
Bann erlösen sollte. Nach einem halben Jahr, als sie gerade 
schwanger gieng, mußte der Fürst in den Krieg ziehen und befahl sei 
ner Mutter daß sie seine Gemahlin wohl hüten sollte. Aber der Mutter 
war seine Abwesenheit gerade recht, und als die Stunde der Nieder 
kunft kam und sie einen bildschönen Knaben gebar mit einem güld- 
nen Kreuz auf der Stirne, wie fie selber hatte, gab die Alte das 
Kind einem Diener mit dem Befehl es in den Wald zu tragen, zu 
morden und ihr zum Zeichen die Zunge zu bringen. Dem Fürsten 
schrieb sie einen Brief, worin stand seine Gemahlin die man selbst
	        
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