Full text: Kinder- und Hausmärchen (3)

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Nr. 10) läßt die Einwirkung biblischer Erzählungen erkennen, ist 
aber ganz mythischen Inhalts. 
Weitab von den nordamerikanischen Märchen, auf der östlichen 
Halbkugel und höher im Norden, begegnen wir Überlieferungen der 
Finnen, die bei aller Verschiedenheit des Inhalts in der Bildungsstufe 
Verwandtschaft mit jenen zeigen und, wenn auch durch einen losen 
epischen Faden zusammen gehalten, doch in einzelne Stücke sich leicht 
abtrennen laffen. Die mythische Grundlage tritt hier noch mächtiger 
hervor, während sich Tiefe und Wahrheit der Naturanschauung nicht 
geringer erweist. Kalevala, noch jetzt in dem Munde der Sänger 
fortlebend, ist zugleich eins der wunderbarsten Denkmäler der nordi 
schen Vorzeit und wird an Ursprünglichkeit und innerm Gehalt nur 
von der Edda übertreffen; würdigen aber kann diese Poesie die aus 
dem Zusammenhang mit der vorgeschichtlichen Zeit ihre Kraft zieht 
und ihre Bedeutung empfängt, nur wer gelernt hat sich in die Zu 
stände zu versetzen, die sie schildert. Auch hier macht den Hauptinhalt 
eine Brautsahrt aus, indem drei Brüder um dieselbe, mit wunderbarer 
Schönheit und den höchsten Gaben ausgestattete Jungfrau werben, 
die dem jüngsten zu Theil wird. An die Geschicke, die dabei walten, 
find Überlieferungen geknüpft, die in märchenhafter Darstellung von 
der Entstehung der Erde und den frühsten Zuständen des menschlichen 
Zusammenlebens berichten. Den Brüdern wohnt schaffende Kraft 
bei, zumal dem ältesten: er bildet Inseln, Buchte und Felsen, läßt 
Sonne und Mond erscheinen. Die jedesmalige Lage, in die sie ge 
rathen, bestimmt sie hervor zu rufen was zum irdischen Dasein nöthig 
ist. Ihnen gegenüber steht eine böse Zauberin, die Krankheit und 
Seuchen entstehen läßt und Sonne und Mond verschließt, um der 
Erde das Licht zu entziehen. Wir vernehmen von der Erfindung der 
Harfe und des Gesangs, dessen Kraft so überwältigend ist/ baß die 
ganze Natur in Aufruhr geräth: die Thränen, die dem Sänger dabei 
über die Wangen rollen, fallen ins Meer und bilden Edelsteine, die 
eine blaue Ente aus der Tiefe holt. Als jene Harfe ins Meer ge- » 
funken ist, wird eine zweite verfertigt, bei deren Klang der Adler seine 
Jungen im Nest verläßt und auf die Töne horcht. Doch auch die 
Grenzen der Macht werden bezeichnet, vergeblich ist der Versuch einer 
aus Silber und Gold kunstreich gebildeten Frau Lebenswärme mit 
zutheilen oder Athem einzuhauchen: vergeblich will man die geraubten 
Gestirne, Sonne und Mond durch künstliche, aus edlem Metall ge-
	        
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