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trat, wagte ich kaum zu ahnen, dass aus flüchtigen, durch meine musi
kalischen Interessen gewonnenen gesellschaftlichen Beziehungen einst
eine herzliche, auf gegenseitiger Achtung beruhende Freundschaft er- ;
wachsen würde. Zu der Zeit, als ich zum ersten Mal mit dieser Familie
in Berührung kam, war der Hausherr schon einige Jahre tot. Dem Haus
wesen stand die Witwe, Frau Marie Sch*££vor, der jüngere Sohn Franz,
obwohl erst zwanzigjährig, führte schon selbstständig das väterliche
Geschäft, der ältere Sohn Carl, der Medizin studiert hatte, füngier
te bereits als Assistenzarzt in irgend einem grossen Krankenhaus.
Von sehr gewinnendem Wesen war die musikfrohe Tochter. Arma t Vom ersten
Augenblick an imponierte mir die distinguierte Erscheinung der Frau
Marie Sch., nicht minder ihre ausserordentliche Gewandtheit im gesell
schaftlichen Verkehr. Von ihr ging eine natürliche Würde aus, die
wohltuend berührte, und äabei aller Liebenswürdigkeit verstand sie es
doch ausgezeichnet, die nötige Distanz zu wahren gegenüber Personen,
die ihr noch nicht bekannt genug waren. Da ich auch bald den hohen
ethischen Wert ihrer Persönlichkeit erkannte, wurde es mir nicht
schwer, trotz meiner ganz anders gearteten Natur, mich auf die zu
nächst etwas kühle Temperatur in diesem vornehmen feingeistigen Fa
milienkreis einzusteilen. Innerlich war ich sehr froh, endlich Zu
gang zu einer angesehenen Kasseler Familie gefunden zu haben, was ja
für Fremde - wie schon Dingelstedt viele Jahrzehnte früher festgestelli
hatte - in Kassel nicht so leicht war. Nun schien aber auch in kaum
erhoffter Weise mein Ideal einer besonders durch Musik verschönten
Geselligkeitskultur in den Musikabenden bei dieser "hochmusikalischen
Familie Erfüllung zu finden. Schon in ihrem Elternhause - Frau Marie
Sch. stammte aus einer angesehenen Kasseler Grosskaufmannsfamilie -
wurde, wie mir später Frau Sch. erzählte, viel und gut musiziert.
Sie selbst war Besitzerin einer sehr schönen Altstimme von grossem Um
fang, die sie mit einer bei Dilettanten nicht häufig zu findenden Kul
tur verwertete. Daneben war auch Frau Sch. eine ausgezeichnete Kla
vierspielerin, die nicht nur die gesamte klassische Klavierliteratur
kannte und beherrschte, sondern auch die schwierigsten Lied-und In
strumentalbegleitungen sozusagen vom Blatte und gleich stets mit dem
erforderlichen Ausdruck spielte. Einer echt deutsch empfindenden Fa
milie entstammend, in der Art, wie man sie häufig in Deutschland als
Träger geistiger und künstlerischer Kultur findet, war es durchaus
nicht erstaunlich, daS3 sie diese Kultur auch in ihre eigene Familie
verpflanzte. Dank ihrer hohen musikalischen Bildung und ihrer schönen
Altstimme war sie natürlich auch in allen privaten Musikzirkeln eine
gesuchte Grösse, und besser als aus anderen zeitgenössischen Quellen
konnte ich aus ihren mir gesprächsweise mitgeteilten Erinnerungen mir
ein ungefähres Bild machen von der Pflege, die ernste und gute Musik
in angesehenen Kasseler Familien in den letzten Jahrzehnten des vori
gen Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende erfuhr. So verstand es
beispielsweise ein hochmusikalischer Mann, wie es der Geheime Regier
ungsrat von Sachs gewesen war, einen musikliebenden Gesellschafts
kreis um sich zu scharen. Auf solche Art entstand ein Gesangszirkel,
dem ausser Frau Sch. und ihrem verstorbenen Gatten Frau von Sachs
selbst als Sopran, der einstige lyrische Tenor des früheren Kgl. The
aters Herr Kietzmann mit seiner Gattin, Justizrat Dr. Harnier, Baurat
Keller, Frl. Bode und Frl. Tandien angehörten. Die Zusammenkünfte fan
den im Saal des Lesemuseums statt. Gemeinsam wurden Ensembles aus
Opern-und Chorwerken gesungen. Dem Leiter des Zirkels, Geheimrat von
Sachs, war es besonders gegeben, die unter seiner Führung Singenden
ihrer Eigenart nach zu beschäftigen.
Zwei bis drei Winter dauerten diese musikalischen Zusammenkünfte und