Full text: Kultur der Geselligkeit; Intimes Musizieren; Ausklang; Harry de Garmo in memoriam (Band 3, Teil 2)

225 
trat, wagte ich kaum zu ahnen, dass aus flüchtigen, durch meine musi 
kalischen Interessen gewonnenen gesellschaftlichen Beziehungen einst 
eine herzliche, auf gegenseitiger Achtung beruhende Freundschaft er- ; 
wachsen würde. Zu der Zeit, als ich zum ersten Mal mit dieser Familie 
in Berührung kam, war der Hausherr schon einige Jahre tot. Dem Haus 
wesen stand die Witwe, Frau Marie Sch*££vor, der jüngere Sohn Franz, 
obwohl erst zwanzigjährig, führte schon selbstständig das väterliche 
Geschäft, der ältere Sohn Carl, der Medizin studiert hatte, füngier 
te bereits als Assistenzarzt in irgend einem grossen Krankenhaus. 
Von sehr gewinnendem Wesen war die musikfrohe Tochter. Arma t Vom ersten 
Augenblick an imponierte mir die distinguierte Erscheinung der Frau 
Marie Sch., nicht minder ihre ausserordentliche Gewandtheit im gesell 
schaftlichen Verkehr. Von ihr ging eine natürliche Würde aus, die 
wohltuend berührte, und äabei aller Liebenswürdigkeit verstand sie es 
doch ausgezeichnet, die nötige Distanz zu wahren gegenüber Personen, 
die ihr noch nicht bekannt genug waren. Da ich auch bald den hohen 
ethischen Wert ihrer Persönlichkeit erkannte, wurde es mir nicht 
schwer, trotz meiner ganz anders gearteten Natur, mich auf die zu 
nächst etwas kühle Temperatur in diesem vornehmen feingeistigen Fa 
milienkreis einzusteilen. Innerlich war ich sehr froh, endlich Zu 
gang zu einer angesehenen Kasseler Familie gefunden zu haben, was ja 
für Fremde - wie schon Dingelstedt viele Jahrzehnte früher festgestelli 
hatte - in Kassel nicht so leicht war. Nun schien aber auch in kaum 
erhoffter Weise mein Ideal einer besonders durch Musik verschönten 
Geselligkeitskultur in den Musikabenden bei dieser "hochmusikalischen 
Familie Erfüllung zu finden. Schon in ihrem Elternhause - Frau Marie 
Sch. stammte aus einer angesehenen Kasseler Grosskaufmannsfamilie - 
wurde, wie mir später Frau Sch. erzählte, viel und gut musiziert. 
Sie selbst war Besitzerin einer sehr schönen Altstimme von grossem Um 
fang, die sie mit einer bei Dilettanten nicht häufig zu findenden Kul 
tur verwertete. Daneben war auch Frau Sch. eine ausgezeichnete Kla 
vierspielerin, die nicht nur die gesamte klassische Klavierliteratur 
kannte und beherrschte, sondern auch die schwierigsten Lied-und In 
strumentalbegleitungen sozusagen vom Blatte und gleich stets mit dem 
erforderlichen Ausdruck spielte. Einer echt deutsch empfindenden Fa 
milie entstammend, in der Art, wie man sie häufig in Deutschland als 
Träger geistiger und künstlerischer Kultur findet, war es durchaus 
nicht erstaunlich, daS3 sie diese Kultur auch in ihre eigene Familie 
verpflanzte. Dank ihrer hohen musikalischen Bildung und ihrer schönen 
Altstimme war sie natürlich auch in allen privaten Musikzirkeln eine 
gesuchte Grösse, und besser als aus anderen zeitgenössischen Quellen 
konnte ich aus ihren mir gesprächsweise mitgeteilten Erinnerungen mir 
ein ungefähres Bild machen von der Pflege, die ernste und gute Musik 
in angesehenen Kasseler Familien in den letzten Jahrzehnten des vori 
gen Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende erfuhr. So verstand es 
beispielsweise ein hochmusikalischer Mann, wie es der Geheime Regier 
ungsrat von Sachs gewesen war, einen musikliebenden Gesellschafts 
kreis um sich zu scharen. Auf solche Art entstand ein Gesangszirkel, 
dem ausser Frau Sch. und ihrem verstorbenen Gatten Frau von Sachs 
selbst als Sopran, der einstige lyrische Tenor des früheren Kgl. The 
aters Herr Kietzmann mit seiner Gattin, Justizrat Dr. Harnier, Baurat 
Keller, Frl. Bode und Frl. Tandien angehörten. Die Zusammenkünfte fan 
den im Saal des Lesemuseums statt. Gemeinsam wurden Ensembles aus 
Opern-und Chorwerken gesungen. Dem Leiter des Zirkels, Geheimrat von 
Sachs, war es besonders gegeben, die unter seiner Führung Singenden 
ihrer Eigenart nach zu beschäftigen. 
Zwei bis drei Winter dauerten diese musikalischen Zusammenkünfte und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.