Full text: Das Kasseler Theater- und Musikleben im Wandel der Zeiten; Im Banne der bildenden Kunst (Band 3, Teil 1)

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ter ihres offiziellen Kritikers Latwesen akzeptierte . Nachdem ich 
also sozusagen meine Prüfung bestanden habe ,besuchte ich nun in 
len folgenden Jahren in der erwähnten Eigenschaft das Schauspiel 
des Theaters noch öfter als sollst • 
Im Jahre 19o9 sollte mit Ende der Saison das alte Theater entgültig 
seine Pforten schliessen »um ganz vom Erdboden zu verschwinden »aber 
das neue Leben ,das aus seinen Ruinen erwuchs »spielte sich nicht 
wieder in einem Mugentempel »sondern indem später, neu erstehenden 
früheren Pietz*sch^n Warenhause ab. In der Theatergeschichte Kas 
sels war also das Jahr 19o9 bedeutungsvoll. Nun hiess es Abschied 
nehmen von der alten ehrwürdigen Kunststätte »die schon so vielen 
Generationen zur Erbauung gedient hatte • Per Intendanz oblag es 
nun,dem Spielplan in diesem Abschiedsjahre eint besonderes und in 
teressantes fölief zu*geben »aber dazu schien sie sich von einigen 
Ansätzen -abgesehen nicht aufschwingen zu können . Selbst in den Ur- 
aufführungenzeigte sie keine glückliche Hand .So brachte man in je 
nem Jahre^u. A. als Uraufführung ein# Schauspiel einer in weitesten 
Kreisen unbekannten DichterinFrl von Förster - ich glaube das Stück 
war M Brautfahrt " betitelt - eine ziemlich dilettantische Arbeit , 
die kaum eine andere Theaterleitung von Rang der Aufführung für wert 
erachtet hätte . Einer anderen Uraufführung dem Schauspiele M Heim 
kehr M kam auch eine mehr lokale Bedeutung zu*Immerhin erwies sich 
dieses Werk »das nach meiner Erinnerung eine warmherzige Apologie 
des Christentums zum Hauptvorwurf hatte »als einj beachtenswerte 
Talentprobe . Auch die in den vergangenen Jahreft als besonders zugkqe 
kräftig erwiesenen Werke der leichten Muse sowohl die Operetten 
älterer Herkunft als auch die neuere Production wie z. B. der "Wal 
zertraum "von Oskar Strauss »der bekannte Operettenschlager "Pie 
Lollarprinzeissin "von Fall brachten der Theaterkasse wertvollen Zu 
wachs "»sonst aber dem Hoftheater kaum einen künstlerischen Gewinn. 
Der immer in Kassel hochgehaltenen ShakespeareTradition getreu un#i 
terliess die Intendanz nicht »auch diesem Genius noch im letzten 
Jhhre des alten Theaters zu huldigen .Von den Königsdramen erschien 
der seltener gegebene "Richard II" mit Alberti in der Titelrolle 
und als letztes ShakespeareSchauspiel Macbeth "mit Bohne als Macbeth 
und Frau Bayrhammer als Lady Macbeth . Etwa 124 Jahre vorher hatte # 
man mit diesem Shakespearedrama die Aera des deutschen Schauspiels 
in dem vorher nur als Opernhaus dienenden alten Theaters begonnen. ' 
In Beethoven*s Fidelio verabschiedeten sich als Florestan Weltlingei 
und in der Titelrolle Frl . Seiffert »für welche in der P’at lange 
Jahre nachher ganz gleichwertige Kräfte nicht widergefunden wurden. 
Als letzte Oper im alten Hause hatte man „JessondaVon Spohr auser 
koren.um den Manen dieses für Kassel*s musikalische Entwicklung so 
bedeutsamen Komponisten eine Huldigung darzubringen »aber trotz der 
vorzüglichen Interpretation »die der Tristan durch Wuzel fand »ver 
mochte man nicht dem schon stark verblassten Werke neues ^eben ein 
zuhauchen .Aber es war und blieb ein anerkennenswerter Akt der Pie 
tät und vielleicht gerade die Generation »die noch die Fühlung mit 
dom Spohr'sehen Zeitalter nicht ganz verloren hattt? , \ird vorwiegend 
an diesem Abend der Vorstellung beigewohnt haben »um nochmals den 
Anhauch einer längst entschwundenen Kunstepoche zu verspüren . Pie 
Trennung von der liebgewordenen alten Kunststätte ist sicherlich der 
alteingesessenen Kasselern Familien nich’t leicht geworden • Ein Ge 
fühl stiller Wehmut mag die meisten Besucher dieser letzten Vorstel 
lung beschlichen habenals der Vorhang zum letzten Male vor ihnen 
niederging . Viele Kasseler begriffen einfach nicht »warum dieser 
alte »einst aus einem prinzlichen Palais entstandene Kunsttempel , 
der durchaus noch nicht baufällig war*auf einmal den Bedürfnissen 
der u egenwart nicht mehr genügen sollte »nachdem darin die gegen 
wärtige und so viele vergangene Generationenlhren Durst nach Illu-
	        
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