Full text: Das Kasseler Theater- und Musikleben im Wandel der Zeiten; Im Banne der bildenden Kunst (Band 3, Teil 1)

doch der enge Horizont,über den ich damals eigentlich erat 
verfügte, so recht zum Bewusstsein und an mir selbst erfuhr 
ich, wie recht Goethe hatte, als er zum Beginne der “Einleitung 
in die Propyläen” sagtes "Der Jüngling, wenn Natur und Kunst 
ihn an ziehen, glaubt mit einem lebhaften Streben, bald in das 
innerste Heiligtum zu dringen. Der Mann bemerkt nach langem 
Umherwandein, daß er sich noch immer in den Vorhöfen befindet." 
Bern 3Üßen Wahnwitz der Kunst aber nun einmal verfallen und nur 
zu gern in Traumwelten weilend, habe ich die heiligen Hallen 
der v/eitberühmten Kasseler Gemäldegalerie recht häufig und 
mit stets wachsendem Entzücken durchschritten. Ir dieser durch 
höchste Kunst geweihten Stätte bin ich schließlich so heimisch 
geworden, daß die Erinnerung an die großen Meisterwerke, die 
sie birgt und die mir zu einer Quelle echter Kunstorkenntnis 
werden sollten, nie verblassen konnte. Das eindringliche Stu 
dium dieser Meisterwerke half aber auch aus jenen Vorhöfen, 
von denen Goethe spricht, allmählich hinauszugelangen, um nun 
doch noch als reifer Mann einzudringen in das innerste Heilig 
tum der Schönheit, aa3 sich nur dem erschließet, der “immer 
strebend sich bemüht“. Heute erinnere ich mich noch genau, 
v/elchen großen Eindruck bei meinem ersten Besuche der Kasseler 
Gemäldegalerie vor dem Betreten der Säle schon das prunkvolle 
Treppenhaus mit den prächtigen Länderotatuen, die in blendend 
weißen Marmor dem die Treppe Empörst eigenden entgegenleuchteten, 
auf mich ausübte. In meiner mir angeborenen Ehrfurcht vor der 
Kirnst, begnügte ich mich aber nicht mit dem flüchtigen Hinschau 
en auf diese« Echtermeyer * sehe Bildwerk^ sondern ich musterte 
gleich von vornherein diese in wahrhaft königlicher Haltung 
verharrenden Frauengeetalten, die allegorisch die Länder Euro 
pas, die zu der bildenden Kunst in irgend einer Beziehung 
standen, darstellten. Von den Schöpfungen des Kasseler Bildhau 
ers Echtermeyer sollen diese Frauenfiguren die volkstümlichsten 
sein. Die künstlerische Auffassung, die aus ihrer Gestaltung 
erkennbar ist, verleiht jedenfalls den Bildwerken einen hohen 
Wert. Bei aller Grazie, die diese Frauengestalten umflieöft, 
spricht aus ihrer Haltung und den Gesichtszügen gleichzeitig 
ein hoher Ernst, der ahnen lässt, wie sie sich ihres inneren 
Reichtums vollkommen bewusst sind. In knappster Formulierung 
hat der Kunotschriftsteller Hubert Clages den einzelnen Figuren 
äußerst kennzeichnende Attribute beigelegt, die wohl geeignet 
sind, die Stimmung, die dem Schöpfer vorschwebte, zum Ausdruck 
zu bringen. So erschienen dem Schriftsteller Clages Hellas 
in maienfrischer Jungfräulichkeit, Rom in strenger Bewußtheit, 
Italien in ruhiger Klarheit, Spanien in beherrsch 
ter Leidenschaftlichkeit, H oll a n" d ’ in prunkvoller Behäbig 
keit, Frankreich in geistreicher'”Grazie, England in 
sinnendem Ernst und endlich Deut sch 1 a n a Tn keuscher 
Herrlichkeit. 
Mit höchster Ehrfurcht betrat ich die großen vier Hauptsäle 
der Galerie und sah nun zum ersten Male in meinem Leben eine 
große Anzahl Originalwerke alter Meister, die ja vorwiegend 
in dieser Galerie zu finden sind. Mit respektvoller Bewunderung 
betrachtete ich die vielgerühmten Kunstschätze, ohne aber ge 
rade in einen Begeisterungstaumel hineinzugeraten. Mein Auge war 
bis dahin wohl für die Werke der neueren Kunst des 19*ten Jahr 
hunderts einigermaßen geschult, ober zum Verständnis der alten 
Meister fehlte mir damals um die Jahrhundertwende einerseits
	        
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