66
Würdigkeit bleiben »dass solch ein Werk in einer Atmosphäre tollsten
Treibens der .Umwelt ,ja ,in einer Zeit niedergeschrieben wurde »als
König J^rÖme*s Karnaval im westfälischen Kassel in der höchsten Blü
te stand und dass man schliesslich dem "König Lustik " den Ruhm zu
erkennen muss »ein Förderer der Erschliessung deutscher Märchen -
und Sagenwelt .gewesen zu sein , klingt beinahe grotesk .Bewusst hat
Jdröme - darüber darf man beruhigt sein - diesen Ruhmestitel nicht
erstrebt . Zu Zeiten JerÖme’s hiess es allgemein : "Nous ne lisons
gubre " . Graf Einhard »der von Napoleon eingestezte Beobachter des
Kasseler Hofes 7schrieb unterm 5fifai 18o9 an den ihm befreundeten
Goethe : ... " Wir sind hier von allem literarischen Verkehr so ab
geschnitten ,dass selbst Johs von Müller sich $ur auf die gelehrten
Zeitungen beschränkt . A ..Bas beleuchtet in schlagender Weise die
geistige Atmosphäre jener Zeit.
Bass die Märchen nicht ihr&r eignen Inspiration entsprungen sind ,ha
ben beide Brüder stets offen bekannt . Der unversiegende Quell für
die Märchen war letzten Endes der Volksglaube . Aus ihm haben sie
hauptsächlich geschöpft und die von ihnen geschriebenen Märchen sind
ja nur der Hiederschlag dessen ,was im Volke bewahtt ,erzählt und ge
fabelt wurde . Nur wenigen im Volke ist aber die Gabe verliefen ,sol
ches durch die Jahrhunderte überkommene Märchengux zu bewahren . Für
den ersten Band erstand den Brüdern aus ihrer nächsten Bekanntschaft
in Dorothea Wild ,die später den einen der Brüder heiratete ,die Mär
chenerzählerin . Von ihr rühren u. A. der ? singende Knochen" und
" Frau Holle " her , aber für den zweiten Bsnd hatten bekanntlich die
Brüder Grimm auch in der Nähe von Kassel eine neue hellsprudelnde
Quelle erschlossen :-die_Frau Viehrnannin in Niederzwehren -
" Sie bewahrt die alten Sagen fest im u edächtnis ,welche Gabe »sagt
sie »nicht jedem verliehen sei . B^bei erzählt sie bedächtig und mit
eignem V/ohlgefallen daran" wie Wilhelm Grimm im Vorwort zum zweiten
Band über sie urteilt . An seinen B ru ^ e r Jerdinand schreibt er (13*7<>
1813 ) ganz begeistert : " Wir haben jetzt eine prächtige
Quelle »eine alte Frau »die uns Ramus zugewiesen hat(ilrdjfessor Ramus
war französischer Prediger in Kassel ) aus gwem »die unglaublich
viel weiss und sehF gut erzählt . Sie hot ein gescheites Besicht und
vor vielen ^auernsleuten »ein kluges feines Wesen . Sie kommt faii
alle Wochen einmal und ladet ab »da schreiben wir an drei bis vier
Stunden abwechselnd ihr nach und haben nun eine so schöne Fortset
zung »dass wir leicht einen zweiten Fand liefern können,aber der
^rieg hemmt alles . Pie Frau krio&± 'jedes Mal ihren Kaffee »ein Glas
Wein und geld obendrein , sie weidfuber auch nicht genug zu rühmen
und erzählt dann bei ftamus »was ihr all für Ehre widerfahren sei und
sie habe ihr silbern Löffelchen beim Kaffee gehabt so gut wie einer".
Aus dem Munde dieser schlichten Niederzwehrener Märchenfrau sind den
Brüdern Grimm die schönsten Märchen aus der feder geflossen . Ihr
verdanken sie u. A. die Märchen : " Der getreue Johannes ""die zwölf
Brüder " " Sechse kommen durch die ganze Welt " " Die Gänsemagd "
" die kluge Bauerntochter " u s w .
Nach der Rückkehr des ersten Kurfürsten wurde ^acob Grimm für ver
schiedene Missionen diplomatischer Art verwandt und zu seiner eignen
Wissenschaft!icher Arbeit kam er erst wieder »als er 1816 zweiter
Bibliothekar der kurfürstlichen Bibliothek , er heutigen Landesbibli
othek , wurde , an der sein Brudesfr Wilhelm schon seit zwei Jahren
als Bibliothekssekrwtär angestellt war . In den Schätzen der Biblio
thek fanden sie das wertvollste Material für ihre bedeutungsvollen
Arbeiten »die ich in diesem engen Rahmen nicht im Einzelnen aufzäh
len kann,die aber in gelehrten Kreisen ihr Ansehen und ihren Ruf be
gründeten «Beide waren schon längst Boctore^ b.c. der Univer
sitäten Marburg und Breslau , als man in Kassel wegen ihres beschei
denen Auftretens kaum etwas von ihrer grossen Bedeutung ahnte. In
einem vor mehr als hundert Jahren herausgegebenen Kasseler Fremden
führer wurden sie nicht etwa als die v e rfasser der berühmten "Kinder-