Full text: Meine Kasseler Zeit (Band 1)

Kurfürsten bei der jetztfc glücklich erfolgenden Abfahrt ein Lebehoch 
ausgebracht und wie der Wagen am Kirchflügel vorbeifuhr , wurden ihm 
auch von der Besatzung von Wilhelmshöhe , die dort Aufstellung genom 
men hatte ,mit Trommeln und Pfeifen die militärischen Ehren erwiesen 
Um alles Aufsehen zu vermeiden , wurde der Kurfürst über die nach 
Wilhelmsthal führende Rasenallee nach Station Mönchehof gebracht , wo 
selbst er von einem höheren preussischen Officier in Empfang genom 
men und nach Stettin geleitet wurde • 
Nachdem die kurhessische Dynastie zu existieren aufgehört hatte und 
aen Hohenzollern diese unvergleichlich schöne Sommarresidenz unver 
sehens in den Schoß gefallen war , ist sie auch von diesen regelmäßig 
und sicherlich gern zur Erholung benutzt worden . Wie oft der^alte 
Kaiser Wilhelm I. und sein Sohn sowie deren Familien im Sommer ?/il- 
helmshöhe besuchten , weiss ich nicht aus eigner Anschauung , aber 
von dem letzten Kaiser weiss ich , dass er wohl keinen Sommer verge 
hen liess , ohne nicht einige Wochen mit seiner Familie in Wilhelms 
höhe _verbracht zu haben. Während der Zeit,die ich vom Jahre 19o3 ab 
in Wilhelmshöhe wohnte , traf ich die^Mitglieder der kaiserlichen 
Familie alljährlich bis zu ihrem letzten Aufenthalte im Jahre 1918 
häufig auf meinen zahllosen Spaziergängen . Dort in dem stillen Park 
konnten sie sich ganz zwanglos und ohne Furcht ,belästigt zu werden, 
bewegen . Auf ihren Spaziergängen bevorzugte die Kaiserin mit ihren 
Hofdamen vielfach einsame Park- und Waldwege , wo ich ihr häufig be 
gegnete . Ein ungewöhnlicher Anblick war es , den Kaiser , den man nu: 
in grosser Paradeuniform zu sehen gewohnt war , im Park plötzlich im 
einfachen Strassenanzug zu erblicken. Hier fühlte er sich gewisser 
maßen als Landedelmann. Hinter ihm trollten gewöhnlich seine Liebling: 
Jäckel . Während die Kaiserin meistens 4-6 Wochen in Wilhelmshöhe ~ 
verblieb ,hielt es das ruhelose Temperament des Kaisers im höchsten 
Falle 3 Wochen in Wilhelmshöhe aus • Währendseiner Anwesenheit war die 
ganze Hofhaltung nach .Wilhelmshöhe verlegt . Schloss und Park wurden 
dann der Schauplatz mancher politischer , wenn auch nicht gerade welt 
bewegender Ereignisse ♦ Mit seinem exotischen befolge soll 1889 der 
Schah von Persien Narsreddin dem deutschen Ksiser in Wilhelmshöhe sei 
nen Besuch abgestattet haben • Im Jahre 1$oo sah ich den von den Mäch 
ten zum Weltmarschall ernannten Grafen Waldersee in Wilhelmshöhe 
als er sich beim Kaiser vor Antritt seiner Chinareise als Weltmar 
schall meldete . Im gleichen Jahre sah ich auch den heute längstE zu- 
rückge tretenen Zaren von Bulgarien , der gleichfalls den Kaiser be 
suchte . Unvergesslich ist mir das freundlich lächelnde Gesicht des 
Königs von England Eduard VII . geblieben ,der im Auto neben seinem 
finster dreinschauenden Neffen sahs , den er im Jahre 19o7 in Wilhelm 
höhe besuchte und der trotz der verw. ndtschaftlichen Bande längst sei 
ne berühmte Einkreisungs-politik gegen Deutschland betrieb . In dem 
selben Jahre hatte man auch Gelegenheit , eine exotische Majestät in 
Wilhelmshöhe kennen zu lernen , nämlich, ChulalongkornI. den König 
von Siam . Höfischer Prunk wurde in manchem Sommer in Wilhelmshöhe 
entfaltet , wenn dort im August der Geburtstag des Kaisers Franz Jo 
seph von Oesterreich gefeiert wurde 7 Die Festtafel wurde dann an gan 
besonders schönen Tagen vor der Schlossterrasse aufgeschlagen . Wäh 
rend des Aufenthaltes der kaiserlichen Familie war man in früheren Ja 
ren hinsichtlich der Absperrungsmaßnahmen recht tolerant , aber spä 
ter wurde das Absperrungsgebiet stets erweitert , woran aber das Pu 
blikum wegen seiner Zudringlichkeit zum 1 eil selbst schuld war .Die 
Kasseler , die ihr Wilhelmshöhe über alles lieben , waren daher nicht 
sonderlich entzückt , dass ihnen während der Anwesenheit der kaiser 
lichen Familie ein immerhin beträchtlicher f T e il des Parkes verschlos 
sen blieb . Bei den neuzeitlichen bequemen Verkehrsverhältnissen ist 
ja der Park für die Kasseler Bevölkerung schnell und leicht erreich 
bar und sicherlich seit der Zeit , als die Dampfbahn nach Wilhelmshö 
he geschaffen wurde , strömten die Kasseler wohl an jedem schönen Sor 
tag nach dem Parke , dort Erholung suchend . Ob nun auch schon in 
früheren ^eiten , wo der gewöhnliche Sterbliche zu Fuss gehen musste
	        
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