Full text: Meine Kasseler Zeit (Band 1)

Willemer , die sein .^erz und seinen Sinn damals gefangen nahmen , 
sandte Goethe im Jahre 1815 ein wie au,s zwei untrennbar einander 
zugesellten Blättern entstandenes oderin zwei Hälften auseinander- 
strebendes Blatt seines Gingko und seine Phantasie , die ihm in dem 
Blatte sein Verhältnis zur Geliebten. vor Augen führte, gab seinen 
Gefühlen in den folgenden Versen den*dichterischen Ausdruck : 
Dieses Baumes Blatt, der von Osten 
Meinem Garten anvertraut , 
Gibt geheimen Sinn zu kosten 
Wie’s den Wissenden erbaut . 
Ist es ein lebendig Wesen , 
Bas sich in sich selbst getrennt? 
Sind es zwei , die sich erlesen , 
Dass man sie als eines kennt? 
Solche Frage zu erwidern , 
Fand ich wohl den rechten Sinn. 
Fühlst Du nihfat an meinen Liedern , 
Dass ich eins und doppelt bin? 
Blieb der Gingko eine Seltenheit auf deutschem Boden , so war er 
aber doch häufiger anzutreffen , als ich ursprünglich ennahm , denn 
später fand ich ihn im Schlosspark in Heidelberg , ja, sogar in ei 
nem recht schönen Exemplar in einem kleinen Parke , der früher ei 
nem reichen Engländer gehörte , dicht bei meiner Wohnung in dem Hei 
delberger Vorort Handschuhsheim a. d . ^ergstrasse . Ohne Frage sind 
aber die Gingkos im Wilhelmshöher Park die ältesten in Deutschland 
und sicherlich kommen diesen Patriarchen , wie sie in stolzem Wüchse 
und trotz ihrem Alter noch in voller Jugendfrische in den Hammel 
ragen,die anderen nicht nahe . Stetes Entzücken bereitete mit auch 
in jedem Frühjahre die mächtige Trauerweide an dem Brunnen gegenüber 
dem Marstalle , wenn ihr hellgrünes Blätterkleid wie ein weiter sei 
diger Mantel über dem Brunnen herunterhängt . Schier unermesslich 
erscheint die Pracht der sich überall im Parke hochwölbenden Bäume • 
Mögen es die stolzen Kastanien auf der Nordseite des Schlosses , die 
wundervollen Baumgruppen am neunn Wasserfall sein , unter deren herr 
lichen ,halbrunden Blätterdache man sich wie in einer Kirche wähnt 
oder mögen es die mächtigen Baumgruppen sein , über deren gewaltigen 
vielfältig gestalteten Kronen unser Blick von der Ostfront des Schlos 
ses in der geraden Linie der Wilhelmshöher Allee bis in das Herz der 
Stadt hingleitet ! Auf der Westfront des Schlosses stehend , konnte 
sich mein Blick nfeämals satt genug trinken an dem saftigen Grün der 
weiten Rasenflächen mit ihren auserlesenen Blumenparterres , mit den 
lieblichen Parkszenerien , besonders in der Nahe der grossen Fontä 
ne , den in bunteb Farben strotzenden Blumenarrangements an den Sei 
tenflügeln des Schlosses . Wenn dann der Blick durch die grosse 
Schneise in der Mitte des Waldhintergrundes hinaufklettert zu dem 
Riesenschloss mit dem auf der ^eule ruhenden ,in die weiten Lande 
blickenden Herkules , dann kann man eben nicht umhin , die überaus 
sinnige Verschmelzung von Kunst und 4 1)ätur , wie man sie hier wie übe: 
all im Parke wahrnimmt und die künstlerischen Schöpfungen , wie sie ' 
sich in den vielen Bauten der früheren Landgrafen und Kurfürsten do- 
kumentsieren , einfach bewunderungswürdig zu finden , dann erkennt 
man auch heute noch die innere Berechtigung des den Kasselern nur 
zu bekannten Ausspruches des Dichters Klopstock , der Wilhelmshöhe 
sah , als die Parkidyllik noch vorherrschte und die Bauten sich viel 
leicht noch reizvollen in den Gesamtrahmen einfügten : ... ” ‘“ein 
Gott , welch ' einen schönen und grossen Gedanken hat Euer Fürst da 
in Gottes Schöpfung hineingeworfen ! ”In dem vierten Band der Brie 
fe eines in Deutschland reisenden Deutschen von Weber” Demoritos ” } 
die im Jahre 1828 erschienen sind , findet man schon eine enthusias
	        
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