Full text: Meine Kasseler Zeit (Band 1)

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das im Verhältnis zu dem kleinenLande zahlenmäßig recht ansehnlich 
war »gab es seit 1831 auch eine Bürgergarde ,die zum Schutze der Ver 
fassung ins &eben gerufen wurde . Erst in den Jahren der Reaction wur 
de sie wiederaufgelöst . Jeder selbständige waffenfähige Bürger war v< 
pflichtet ,in dieselbe einzutreten . Es war eine Formation von drei 
Bataillonen und einBataillon war sogar beritten . Eie einstige Bürger 
garde erinnert mich an die nach der Revolution im Jahre 1918 zur Auf 
rechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit Anfang 1919 
geschaffenen Kasseler Stadtwehr A Eieselbe bestand bis 'zum März 1921, 
Ihr gehörte ich ebenfalls lange Zeiten . Een ausgesprochenen militä 
rischen Charakter wie die einstige Bürgerwehr hatte diese Stadtwehr 
milcht . Sie ähnelte vielmehr der auch in der ftevoüiiktionszeit 1848 
aus allen Kreisen der Bevölkerung gebildeten Schutzwache , die damals 
allerlei Unfung wie Katzenmusiken , Fenstereinwerfen , die drohenden 
Plünderungen von Bäckerläden verhindern sollte . Tag nnd w acht vj; ren 
damals grössere und kleinere Patrouillen in der ganzen. Stadt auf den 
Beinen . Aber in der Biedermeierzeit ging es dabei noch ganz gemütlic 
her . Eg kamen kleine Idyllen vor ,die so richtige Spitzwegmotive ab- 
gsben . Ea war einer von den Jchutzwachmämnern von seinem Standorte 
fortgegengen und hatte sein Gewehr stehen lassen, ein anderer wer in 
der {facht auf seinem Posten eingeschlafen und auf der Wache wurde tap 
fer gezecht. Auch die Stadtwehr von 1919 hatte den VVachtdienstin der 
ganzen Stadt zur Unterstützung der damals nicht ausreichenden Polizei 
zu versehen . Poch diesmal waren die Zeiten viel ernster . Eie Stsdt- 
whhr ,die sich zu 6o aus Arbeitern und zu 4o $ aus anderen bürger 
lichen Kreisen ,aus Kaufleuten ,Handwerkern und Beamten zusammensetzt« 
stand unter der Leitung des Landesrat Schellraann und zweier Kommandan-' 
ten des Architectenund Stadtverordneten Catta und des Schlossers Carl, 
die von Zeit zu die Wachen revidierten . Eie grösste Wache von 
etwa 2o Sann,der auch ich zugeteilt war ,befand sich auf dem Polizei 
präsidium . Jed r erhielt ein Militärgewehr mitscharfer Munition . 
Las uewehr musste mit nach "©use genommen werden . Der Eienst bei der 
Stadfwehr war natürlich!’reiwillig und jedes Mitglied brauchte nur jed« 
15 ten tag auf Wache ziehen . Dann allerdings musste man immer zu 
zwei Mahn mit umgehängten Gewehr zun Streifendienst antreten . Im Win 
ter war in den Nächten der Patrouillendienst ,der immer mit entsprach 
iahenden Ruhepausen durchgeführt wurde , weniger angenehm . Und die 
Nachtruhe auf den Pritschen war sehr problematischer Art. Bei den im 
3uni 1919 einsitzenden Unruhen und Plünderungen hat die Stadtwehr siel 
sehr gut bewährt . Für mehrere Wochen befand sich Kassel damals unter 
Belagerungszustand ,der erst am 2 Juli aufgehoben werden konnte . Ein 
mal wurden wir vom Polizeipräsidium im Lastauto weit vor das holländi 
sche Thor hinausbefördert,wo Plünderungen stattgefunden hatten .Wir 
nahmen einige von der] Plünderern fest , die dann der Polizei Übergeber 
wurden . Harmlosere esellen Hessen wir wieder laufen. Die ganze 
Nacht blieben wir dört drsussen und ich erinnere mich während des., 
Krieges nicht soviel gewehrfeuer gehört zu haben ,wie in dieser 
Nacht , das um so unheimlicher anmutete ,als man. nie wusstegwo es ei 
gentlich herkam . In Wirklichkeit hatten die Stadtwehrmänner auf dem 
Rangierbahnbof zu ihrem Zeitvertreib hin und wieder ihre Schüsse in 
die Luft gefeuert .. Ein anderes Mal wurden wir nach dem u efcängnis 
in dgr Unterneustadt herausgefahren ,da der Mob im Begriffe stand , 
die efangenen zu befreien . Diese Situation war schon etwas brenz 
licher . Auch die damals erst im Entstehen begriffene und noch wenig 
disziplinierte Reichswehr war mit Maschinengewehren aufgeboten wor 
den . Die u efangenenbefreiung wurde natürlich auf diese Weise verhin 
dert »aber die nicht sehr angenehme Begegnung mit dem Mob , der joh 
lend hinter unuerm Lastauto herlief ,liess den Ernst der damaligen 
Situation zur ^enüge erkennen . 
Nach diesem'Seitensprunge in die jüngste Vergangenheit möchte ich a- 
ber noch der kurfürstlichen Paraden gedenken .Ohne Frage bildeten 
sie eine Hauptsensation des kurfürstlichen Kassels . Die tägliche
	        
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