Full text: Meine Kasseler Zeit (Band 1)

1 00 
und Spielwerke ,jenes ermüdende Einerlei und dieses spitzfindige 
Vielerlei , kurz alles ekelhaft Gezierte t , as nur Kleinen geistern 
Vergnügen machen kann ,nahm auf einmal ein Ende . Ler falsche Götze - 
Le Nötre wurde entlarvt und vom Throne gestürzt .".... 
Zunächst entstand natürlich eine wahre Wüstenei ,aber bald verstand 
es die gärtnerische Kunst»die Natur wieder in ihre Rechte einzusetzen 
und die frühere Unnatur zu beseitigen . Las Publikum gewöhnte sich 
bald an den neunen englischen u eschmack in der Parkgestaltung und fand 
schliesslich die Karlsaue nun herrlicher als je zuvor . Erst seit etwa 
1oo wahren ist sie in ihrer äusseren u estalt ziemlich gleich geblieben 
denn'unter dem Kurfürsten Wilhelm II. erfuhr sie wohl die letzte 
grundlegende Umgestaltung durch den üb raus tüchtigen Gärtner Hentze , 
dem dieser Fürst den Ausbau und die Pflgge des arkes anvertraute . Mit 
der Schaffung der Aueinsel ,genannt "/Siebenberge ” hat sich dieser 
gartenkünstler -wohl selbst das schönste Lenkmal gesetzt . Auf diesem 
kleinem Eiland hat er die seltensten Bäume , Sträubharr und Blumen - an 
gepflanzt . Besonders stark vertreten auf demselben sind Koniferen , 
Eriken ,Farne und Orchideen . Lort entstand ein richtiger botanischer 
Garten , ier insbesondere im Frühjahr eine { rosse Zugkraft auf alle 
Liebhaber schöner und seltener Pflanzen ausübt . Lie Insel soll einer 
der schönsten und vollständigsten Frühlingsgärten sein. Lie intimen 
n ei,.e der ^srlsaue im Einzelnenzu beschreiben ,dazu bedarf es des 
näheren Eingehens auf die prächtigen Gruppen der verschiedensten Baum 
arten , auf die man überall stösst . Wie r ehr dieser Baumbestand an 
Schönheit denjenigen der meisten bekannten Parks der deutschen Gross 
städte übertrifft , davon überzeugt man sich immer wieder bei jedem 
Spaziergange durch den,^ark unc gefesselt von dieser eigenartigen Srhoi 
heit fühlt man unwillkürlich , wie sehr die heutige Aue in ihrer herr-~ 
liehen ^aumpracht ihr Urbild ,den Versailler Park , mit seinem im s ren- 
gen Stil der französischen Gartenbaukunst geschaffenen Anlagen hinter 
sich zurückgelossen hat . Schon als ich das erste ^al den Versailler- 
^ark durchschritt , der nur in dem leile , wo das Irianonschlösschen 
sich befindet , dem deutschen eschmacke zusagt »mii aber nicht in der 
Nähe des Schlosses , wo der zur Lanier gewordnene Rhythmus der fein ab 
gezirkelten Taxushecken und $uchsbaurapyraaiid en vorherrscht ,gefallen konr . 
te , drängte sich mir der Vergleich mit der Aue sofort auf und ich wa ~ 
keinen Augenblick zweifelhaft , welchem der beiden Parks ich die Palme 
reichen sollte . Auch der von mir schon mehrfach zitierte ^eisende aus 
dem Jahre 178o wiiss in seiner Schrift , also vor mehr als 1 5o fahren 
den wahren Wert der unvergleichlichschönen Aue richtig einzuschätzen , i|| 
wenn er sagt : ‘ . 
" Lie Aue ist einer der schönsten Spaziergänge , ie ich irgendwo an- 
getr'offen habe und wer auch die schönen öffentlichen 3 caziergänze in 
Wien , London , ^erlin und besonders zu Paris gesehen hat , wird die- 
en dennoch schon gross und prächtig finden . In seinen "Wanderungen " 
preist auch Lobe die Aue . Er sagt dass auch,als der Glanz der 
Barockzeit und des Rokfako vorüber war »immer noch die Ansicht galt , 
dass ecs einer ungeschminkten patriotischen Feder nicht zum Vorwurf 
gereichen dürfte , enn man hefaendie berühmten Gärten in Wien , Schön 
brunn , Wörlitz »Nymphenburg und andere auch die Aue bei Kassel mit 
stellt . " * ( merkwürdigerweise ist aber die Aue fast zu allen ^eiten 
von der Ka sseler Bevölkerung nie in dem Maße aufgesucht wurden , v ie 
sie es verdiente . So verständlich es heute sein mag , dass bei den 
schnellen und bequemen Bef örderungsmi Lteln die ^enschen den rasch i'j 
erreichbaren Bergweid mit seiner frischeren un? würzigeren Luft vor 
ziehen , sobleibt es unbegreiflich , dass auch in früheren ^eitläufter 
die Aue trotz ihrer Schönheit sich nicht eines regejen Gesuches erfrei 
te . Von allen deneiij die ihr Lob singen , wird stets die Äst chenleere 
des Parkes unterstrichen . Nur am ersten Pfingstfeiertage ist es von j 
altersher Brauch »die Aue zu besuchen . An diesem TBge strömt die tra 
ditionsliebende Bevölkerung in grossen Scharen nach der sonst von ihr 
so vernachlässigten Karlsaue .
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.