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ein seidenes Kleidchen zur Messe. So sprachen wir
Manches hin und her, dankten Gott, daß er uns
so liebe Eltern gegeben habe und baten ihn, sie uns
doch recht lange zu erhalten. Darauf beschlossen
wir, Dich, liebe Mutter, zu bitten, uns keine
seidene Kleider zu kaufen, sondern drei leinene,
das dritte sollte dann Luischen haben. Mit zärt-
licher Elternfreude hörten Vater und Mutter Ama-
lien zu; dann sprach der Vater: Ich lobe Euch,
meine Kinder; aber Lottchcn hat dennoch gefehlt. —
Warum entfaltete sie nicht vor der treuen Mutter
das stolze Herz, dessen edle Absicht wohl vor Got-
tes allwissendem Auge frei und offen liegt, aber vor
den Eltern, die nicht allwissend sind, darf das
Kind nie Geheimnisse haben. Wenn es ihr auch
scheinen mag, als sei das Schweigen in diesem Falle
Bescheidenheit, so erkenne ich, der ich das Men-
schenherz oft zu prüfen Gelegenheit hatte, nichts
als die schwache Selbstsucht darin, die von An-
dern ein eben so unbeschränktes Vertrauen fordert,
als sie in ihrem Selbstgefallen zu verdienen wähnt.
Vertrauen läßt sich nie selbst bei der edelsten Absicht