Full text: Tageblatt der landwirtschaftlichen Wanderausstellung in Cassel 22.-27. Juni 1911 (25, Stück 1.1911)

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Bild an wie Poesie. Von hier wenden wir uns links einer 
schattigen Kastanienallee zu, welche uns am großen Gewächs- 
hause (rechts) und am Ballsaale (links) vorbei zum Schlosse 
leitet. Welch überraschender Blick tut sich da vor uns auf! 
Das Auge weiß kaum, wo es zuerst ruhen, was es zuerst auf- 
nehmen soll; aber die meisten Menschen mögen wohl in erster 
Linie nach „ihm", nach dem Herkules, suchen. Wir treten 
auf die Rampe des Schlosses, von welcher sich amphitheater- 
artig das glänzendste Parkbild am aufragenden Habichts- 
walde darbietet. Da ragt auf dem scharfen Bergesrande, 
270 Meter über uns, der Herkules in die Lüfte. Der 
Herkules, pflegt man zu sagen; doch wie klein erscheint uns 
dessen Figur, trotzdem sie 9 1/4 Meter groß ist. Was wäre sie 
ohne den gewaltigen Unterbau, das Oktogon, mit der 
Pyramide! Welche wunderbare Harmonie umgibt uns hier, 
alles atmet Natürlichkeit, und hinter uns über den mäch- 
tigen Säulen, da steht es in goldenen Buchstaben: Wilhel- 
mus I. El. condidit! 
Freilich Wilhelm dem Ersten war es nicht vergönnt 
zu schauen, was uns heute so entzückt, aber er sowohl als 
seine treuen Berater, der Architekt Jussow und der Hof- 
gärtner Schwarzkopf, wußten, was sie wollten, und sie hatten 
Genuß von ihren Schöpfungen und fanden gebührende An- 
erkennung bei ihren Zeitgenossen, welche nicht minder be 
geistert waren von Wilhelmshöhe als wir. 
Es ist schwer zu schildern, worin die nie ermüdende 
Wirkung dieses Bildes begründet ist, jedenfalls gliedert sich 
jeder Teil, jede Baumgruppe, und vor allem gliedern sich 
auch die beiden Architektur-Stücke so musterhaft in das Ge- 
samtbild ein, daß alles selbstverständlich erscheint: die Ver- 
teilung von Rasen und Pflanzen, von Licht und Schatten, 
die verhältnismäßig sparsame Verwendung von Blumen- 
beeten, alles ist in glücklicher Weise abgetönt. Und dabei, 
wie verschiedenartig ist das Bild zusammengesetzt, es enthält 
drei grundverschiedene Motive: in der Mitte die breite, zum 
Herkules aufsteigende Rasenbahn, über welche die Bäume 
malerische Schatten werfen, rechts ein freundliches, durch 
leichte Baumformen und Ziersträucher belebtes Parkbild und 
links unter mächtigen düstern Tannen und Schatten ver- 
breitenden Ulmen ein geheimnisvolles Tal, aus welchem 
das Rauschen eines Wasserfalles an unser Ohr dringt. In 
einer Art Überwältigung achten wir kaum des Blumen- 
schmuckes, welcher das Schloß umgibt, und doch ist er wert 
beachtet zu werden. 
Da liegt mitten vor dem Schloß ein Teppichbeet, schein- 
bar klein und doch von riesigen Dimensionen, denn es ist 
17 Meter lang und 6,5 Meter breit und trägt 14 000 
Pflanzen; seine Mitte ist besetzt von einer in Wilhelmshöhe 
gezüchteten Begonie, welche gewürdigt wurde, den Namen 
Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Viktoria Luise 
tragen zu dürfen. Zwei seitliche Scheiben auf diesem Beete 
tragen die seltene Begonie Bavaria. 
Die Dekorationsbeete auf den Ecken des Rasenplatzes 
zeigen uns prächtige Fuchsien-Hochstämme, und vor der 
Schloßrampe ziehen Heliotrop-Bäumchen die Aufmerksamkeit 
auf sich. 
Mit großer Mühe wird versucht, die kahlen Wände des 
Schlosses durch Pflanzen zu beleben; da sieht man wilden 
Wein — die Sorten Ampelopsis Engelmanni und 
muralis —, welche bis unter das Dach ohne Hilfe des 
Gärtners emporklimmen, indes der zierliche Ampelopsis 
Veitchi die unteren Mauerflächen überzieht; beachtenswert 
ist auch ein winterharter Kirschlorbeer, Primus schipka- 
ensis, und die winterharten Rhododendron, letztere an der 
Nordseite des „Weißenstein" genannten Schloßflügels, wo 
kaum ein Sonnenstrahl hinfällt! Mächtige Agaven, 
Opuntien zwischen schön blühenden Stauden, bunte Fenster- 
kästen mit hängenden Fuchsien, Kapuziner-Kresse, Petunien 
und Pelargonien — im Gegensatz zu den üblichen ein- bis 
zweifarbigen — zieren die Zugänge und Altane des 
Schlosses. 
Nun aber lockt es uns, durch den für Architekten hoch- 
interessanten flachen Torbogen zu schreiten, um zu sehen, 
wie es auf der anderen Seite aussieht. Und es lohnt sich! 
Wie anders! Über die mächtigen Baumkronen, frei umher 
schauend, erblicken wir das hessische Bergland mit dem 
Hirschberg und dem Meißner in der Ferne; wir schweifen 
von links her mit den Augen über den Reinhardswald, den 
Kaufunger Wald und die Söhre (rechts), suchen den großen 
Auepark, unterhalb des schroff abfallenden Weinberges, und 
verfolgen auf der geraden Linie der Wilhelmshöher Allee 
den Weg, welcher mitten hinein in die Stadt führt. 
Rechts unter uns erblicken wir den künstlichen See, den 
Lac, der mit seiner geschickten Uferführung als Meisterstück 
der Gartenkunst der Beachtung wert ist. Ein Rundgang an 
den Ufern des Lac bietet stets neue malerische Eindrücke; 
hier sind es die einzelnen Baumformen, dort die mächtigen 
Quarzitfelsen, dann wieder die Gesamtbilder mit der Rosen- 
insel, dem Oktogon oder dem Schloß, welche unsere Auf- 
merksamkeit in Anspruch nehmen. 
Auch im Winter übt der Lac große Anziehungskraft 
aus; es ist ein entzückendes Bild, wenn hier in dieser Um- 
rahmung Hunderte von lebensfrohen Menschen sich der 
Wonne des Schlittschuh-Sportes hingeben. 
Über den Lac hinweg zwischen den hohen Baumkronen 
sehen wir die weite Fulda-Ebene mit dem Dorfe Waldau 
und dahinter den Höhenzug der Söhre — eine schöne 
Landschaft! 
Wir wandern um das Schloß herum, erblicken unten 
im Tale die Roseninsel mit einer prächtigen Eiche und gelan- 
gen auf einen von dichtem Ulmengezweig beschatteten Felsen- 
Vorsprung. Baumwipfel ringsum, darüber schaut vom 
Berge die Löwenburg herüber, aus der Tiefe rauscht ein 
Wasserfall, Vögel singen und zwitschern. Hier ist der 
„Weißenstein", die Wiege der Wilhelmshöhe. 
Einst stand hier (1143—1526) über weißen Quarzit- 
felsen das Kloster Weißenstein: nichts blieb aus jener Zeit 
übrig, nur der Felsen, nach dem das Kloster benannt wurde; 
hier war es auch, wo später einmal, als das Kloster verfiel, 
Landgraf Moritz der Gelehrte auf einem Jagdausfluge 
rastete und, wie der Chronist berichtet, ausrief: „Wie köstlich 
ist es hier in dieser Waldeinsamkeit; ich werde hier ein 
Schloß bauen." Und so geschah es auch; am 25. Juni 1606 
wurde der Grundstein zu diesem Schlosse gelegt, welches 
Moritz und seinen Nachfolgern bis zum Jahre 1786 als 
Sommerresidenz diente. Eine Inschrift an einem leider 
verschwundenen Brunnen kündete deutlich, wie Landgraf 
Moritz sich sein „Moritzheim" — so nannte er das Schloß — 
dachte, sie war lateinisch und lautete übersetzt: 
„Die Stadt mag für sich selbst sorgen, ich ziehe mich 
„in die ländliche Einsamkeit zurück, mich stillen Freuden 
„und anständigen Scherzen zu überlassen. Mache dich 
„schön, Gärtchen, süßes Gärtchen, mache dich schön, aber 
„auch nützlich, daß der Herr, der dich angelegt, freien Tisch 
„durch dich erlangen kann." 
Auf steilen Stufen steigen wir den Fels hinab, Wild- 
nis umgibt uns, da klimmt eine Hortensienart Schizo- 
phragma hydrangioides an den Felsen empor, dort 
wuchert der Giftsumach Rhus toxicodendron, hier sehen 
wir die prächtigen Ranken von seltenen Epheuarten Plodora
	        
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