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Familie, ein, der in rauschenden Lustbarkeiten das Land aussog. Nach
wiederholten Erhebungen — am bekanntesten wurde der Doernbergsche
Aufstand — kam 1813 die Befreiung. Russische Kanonenkugeln jagten
den „König Lustik" von seinem gebrechlichen Thron, der alte Kurfürst
zog im Schmucke seines alten Zopfes unter dem Jubel der Kasselaner
wieder ein, verstand aber die neue Zeit nicht mehr und fand mit seinem
patriarchalischen Regiment wenig Gegenliebe. In der alsbald ver-
mauerten Gruft der Löwenburg ruht der alte Herr von seinem wechsel-
vollen Leben aus. Seinen mit einer Schwester des Preußenkönigs Wilhelm III.
vermählten Sohn, Kurfürst Wilhelm II., möchte man gern
aus der Entwicklung Kassels streichen; seine Mätressenwirtschaft hat
viel Unheil über das Land gebracht. Immerhin gab er den Wilhelms-
höher Anlagen ihren Abschluß, setzte im Roten Palais den letzten fürst-
lichen Monumentalbau Kassels hin, ermöglichte dem Theater unter
Löwe, Seydelmann und Louis Spohr, der ein Menschenalter hindurch
das Kasseler Musikleben in reichem Maße befruchtete, eine Zeit höchsten
Glanzes und gab dem Land die berühmte Verfassung von 1831. Dann
aber setzten jene verhängnisvollen Verfassungskämpfe ein, die erst 1866
ihr Ende fanden, als Friedrich Wilhelm I. seines Thrones entsetzt und
die einst so stille Residenz, in der Ernst Koch seinen unvergänglichen
„Prinz Rosa Stramin", Dingelstedt die „Spaziergänge eines Kasseler
Poeten" und die Brüder Grimm ihre Märchen schrieben, Hauptstadt der
preußischen Provinz Hessen-Nassau wurde.
Kassel nahm nun auch an dem allgemeinen wirtschaftlichen Auf-
schwung Deutschlands teil. Neue Straßenzüge entstanden im Bahnhofs-
und Westviertel, wo in den Gründerjahren freilich, wie auch anderwärts,
ganze Reihen stilloser Häuser aus der Erde wuchsen und auch die
Monumentalbauten jener Zeit, wie das Justizgebäude und die Post am
Königsplatz, keinerlei Rücksicht auf ihre Umgebung nahmen, hier
brachte erst die Neuzeit Besserung- die städtische Murhardbibliothek,
der der bekannte Kulturhistoriker Georg Steinhausen vorsteht, die neue
Kunstakademie, das Staatliche Theater, das Landesmuseum, das die
reichen Kunstsammlungen früherer Jahrhunderte aufnahm, die impo-
sante Stadthalle und nicht zuletzt das wuchtige Rathaus bedeuten doch
wieder einen erheblichen künstlerischen Aufschwung. Das Ausdehnungs-
bedürfnis der Stadt verschlang eine Reihe von Vororten,- neue Bahn-
verbindungen strahlten von Kassel aus, wie auch die Kanalisierung der
Fulda und die Eröffnung eines Kasseler Hafens dem Verkehr neue
Bahnen wiesen, die in einer Großschiffahrtsstraße zwischen Weser und