Full text: Festschrift zum Deutschen Tag in Kassel am 31. Mai bis 1. Juni 1924

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jähriges Bestehen und auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken 
kann. 
AIs ein Wahrzeichen ernster, tiefer und echter Musikkultur wird 
man immer das Vorhandensein von Vorkämpfern für den altertümelnden 
unbegleiteten oder mittelalterlichen Gesang, wie er noch im 16. und 
17. Jahrhundert besonders üblich war, ansehen dürfen. Er verlangt 
eine solche Präzision der Tonbildung, rhythmische Genauigkeit und 
dynamische Lebendigkeit, eine solche Feinheit und Lauterkeit des Vor- 
trags, daß bei ihm alle modischen und äußerlichen Momente völlig 
ausscheiden. Eine Stätte edler, reiner Kirchenmusik ist Kassel immer 
gewesen seit Spohrs Tagen, aber erst um die Wende des Jahrhunderts 
treffen wir besondere Vereinigungen, die ausschließlich nach der Er- 
neuerung des alten A cappella-Stiles strebten: 1899 die „Musica 
sacra" und 1902 der „A cappella-Chor". Beide sind aber allmählich 
in ihrer Kraft erlahmt, die eine kurz vor dem Weltkriege, die andere 
inmitten der furchtbaren Krisen, die das Völkerringen über unser Volk 
brachte. Aber sofort nach dem Friedensschluß 1919 sind beide wieder 
erstanden: der „Zulaufsche Madrigalchor" (unter Dr. Ernst Zulauf) 
führt die Tradition der Musica sacra fort. Er hat sich mit seiner sorg- 
fältig ausgereiften Liedkunst schnell die Anerkennung bei Zuhörern und 
Presse errungen. Der neue A cappella- Chor hat Robert Laugs zu 
seinem Feldherrn ernannt, der das gut geschulte und harmonisch vor- 
treffliche und äußerst gewissenhaft zusammengestellte vokale Orchester zu 
seltener rhythmischer und tonlich-wohllautender Feinheit abgeklärt hat. 
Man hat so oft die ethische Seite der Musik betont, wenn man 
also von einer Stadt sagen kann: je musikalischer sie ist, um so besser 
ist sie, so muß Kassel eine sehr moralische, sehr solide und gut erzogene 
Stadt sein und sie ist es auch, die leichtsinnige Operetten- und Cafehaus- 
sphäre ist zwar auch da, aber sie dringt kaum bis zum Herzen des ge- 
wissenhaften Durchschnittsbürgers und sie hemmt nirgend seine traditio- 
nelle und anständige Kunstbegeisterung. 
-- 
Anmerkung: Auf Grund der Forschungsergebnisse des Schriftstellers Paul 
Heidelbach haben wir darauf gesehen, Kassel durchgehend mit K zu schreiben. Bei 
dem Titelbild war dieses unmöglich, da es mit dem Plakat zum Deutschen Tag 
übereinstimmen sollte. Die Schriftleitung.
	        
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