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jähriges Bestehen und auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken
kann.
AIs ein Wahrzeichen ernster, tiefer und echter Musikkultur wird
man immer das Vorhandensein von Vorkämpfern für den altertümelnden
unbegleiteten oder mittelalterlichen Gesang, wie er noch im 16. und
17. Jahrhundert besonders üblich war, ansehen dürfen. Er verlangt
eine solche Präzision der Tonbildung, rhythmische Genauigkeit und
dynamische Lebendigkeit, eine solche Feinheit und Lauterkeit des Vor-
trags, daß bei ihm alle modischen und äußerlichen Momente völlig
ausscheiden. Eine Stätte edler, reiner Kirchenmusik ist Kassel immer
gewesen seit Spohrs Tagen, aber erst um die Wende des Jahrhunderts
treffen wir besondere Vereinigungen, die ausschließlich nach der Er-
neuerung des alten A cappella-Stiles strebten: 1899 die „Musica
sacra" und 1902 der „A cappella-Chor". Beide sind aber allmählich
in ihrer Kraft erlahmt, die eine kurz vor dem Weltkriege, die andere
inmitten der furchtbaren Krisen, die das Völkerringen über unser Volk
brachte. Aber sofort nach dem Friedensschluß 1919 sind beide wieder
erstanden: der „Zulaufsche Madrigalchor" (unter Dr. Ernst Zulauf)
führt die Tradition der Musica sacra fort. Er hat sich mit seiner sorg-
fältig ausgereiften Liedkunst schnell die Anerkennung bei Zuhörern und
Presse errungen. Der neue A cappella- Chor hat Robert Laugs zu
seinem Feldherrn ernannt, der das gut geschulte und harmonisch vor-
treffliche und äußerst gewissenhaft zusammengestellte vokale Orchester zu
seltener rhythmischer und tonlich-wohllautender Feinheit abgeklärt hat.
Man hat so oft die ethische Seite der Musik betont, wenn man
also von einer Stadt sagen kann: je musikalischer sie ist, um so besser
ist sie, so muß Kassel eine sehr moralische, sehr solide und gut erzogene
Stadt sein und sie ist es auch, die leichtsinnige Operetten- und Cafehaus-
sphäre ist zwar auch da, aber sie dringt kaum bis zum Herzen des ge-
wissenhaften Durchschnittsbürgers und sie hemmt nirgend seine traditio-
nelle und anständige Kunstbegeisterung.
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Anmerkung: Auf Grund der Forschungsergebnisse des Schriftstellers Paul
Heidelbach haben wir darauf gesehen, Kassel durchgehend mit K zu schreiben. Bei
dem Titelbild war dieses unmöglich, da es mit dem Plakat zum Deutschen Tag
übereinstimmen sollte. Die Schriftleitung.