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singenden Ahasver werden wollte. Die Oper mit ihren Trabanten blieb
also der Liebling, das Schauspiel das Stiefkind.
Das neue Reich, die Annexion Kurhessens durch die preußische Krone
und der Hohenzollernglanz der königlichen Schauspiele brachte wohl
einen neuen Intendanten in von Carlshausen, ab und zu neue Mitglieder
und neue Stücke, aber keinen neuen Geist und keinen Aufschwung. Die
Tätigkeit des nächsten Reichskanzlers in Thaliens Gefilden Adolf von
und zu Gilsa wird wohl als verdienstvoll und großzügig gerühmt (er
brachte unter anderm einen Zyklus Shakespearescher Königsdramen zu
glanzvoller Darstellung), aber Kassel stärker in den Vordergrund zu
schieben vermochte auch er nicht, da seine Bühne hinter den übrigen drei
kaiserlichen Theater Berlin, Wiesbaden, Hannover stets zurückstehen
mußte. Unter seiner Leitung wurde aber noch der neue Bau in Angriff
genommen, der sich jetzt am Abhang der Aue erhebt, der durch seine
geschmackvolle Innenausstattung mit breiten Treppen besticht und durch
seine vortrefflichen Bühnenverhältnisse (Vorderbühne mit zwei Seiten-
und zwei Hinterbühnen) nebst seinen feuersicherheitlichen Anlagen tech-
nisch auf der höhe der Zeit steht. Sein Nachfolger Graf Byland Baron
zu Rheydt zog dann in dieses neue Haus ein. Zu etwas Eigenem schwang
man sich auch jetzt nicht auf. Die Abhängigkeit vom Berliner Vorbild
und die hoftheaterliche Horizontenge in Literatur und Oper blieb auch
jetzt.
Die novemberliche Umwälzung und die Republik brachte dann den
Bruch. Jetzt suchte man den so lange verpaßten Anschluß an die Gegen-
wart zu gewinnen, aber man hatte nicht mit dem Publikum gerechnet,
das in Kassel besonders konservativ ist und das bei der Umstellung auf
die Kühnheiten moderner Brauseköpfe eher erschreckt als erfreut war.
Man wird es den zurzeit maßgebenden Männern im Auetempel (Walter
Sieg als Intendanten und Regisseur, Robert Laugs, Dr. Ernst Zulauf,
Dr. W. Pauli als Dirigenten, Alfons Pape als Schauspielregisseur und
Mathieu Derichs als Opernregisseur) zubilligen müssen, daß sie über
alle wirtschaftlichen Nöte hinweg die Arbeitsfähigkeit des Instituts zu
steigern und den Spielplan auszubauen suchen, auch in Musikdrama
und Schauspiel, Regie, Bühnenbild und Darstellung neue Wege gehen,
wenn man auch Uraufführungen, in denen sich das tätige Miterleben
am Geisteskampf der Gegenwart und eine gewisse Eigenpersönlichkeit
am klarsten ausspricht, leider vermißt. Mag auch oft die organische
Einheit in dem großen Schattenspiel fehlen und der Erfolg dabei be-
scheiden sein, auch nach außen nur schwach in die Erscheinung treten,