Full text: Festschrift zum Deutschen Tag in Kassel am 31. Mai bis 1. Juni 1924

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singenden Ahasver werden wollte. Die Oper mit ihren Trabanten blieb 
also der Liebling, das Schauspiel das Stiefkind. 
Das neue Reich, die Annexion Kurhessens durch die preußische Krone 
und der Hohenzollernglanz der königlichen Schauspiele brachte wohl 
einen neuen Intendanten in von Carlshausen, ab und zu neue Mitglieder 
und neue Stücke, aber keinen neuen Geist und keinen Aufschwung. Die 
Tätigkeit des nächsten Reichskanzlers in Thaliens Gefilden Adolf von 
und zu Gilsa wird wohl als verdienstvoll und großzügig gerühmt (er 
brachte unter anderm einen Zyklus Shakespearescher Königsdramen zu 
glanzvoller Darstellung), aber Kassel stärker in den Vordergrund zu 
schieben vermochte auch er nicht, da seine Bühne hinter den übrigen drei 
kaiserlichen Theater Berlin, Wiesbaden, Hannover stets zurückstehen 
mußte. Unter seiner Leitung wurde aber noch der neue Bau in Angriff 
genommen, der sich jetzt am Abhang der Aue erhebt, der durch seine 
geschmackvolle Innenausstattung mit breiten Treppen besticht und durch 
seine vortrefflichen Bühnenverhältnisse (Vorderbühne mit zwei Seiten- 
und zwei Hinterbühnen) nebst seinen feuersicherheitlichen Anlagen tech- 
nisch auf der höhe der Zeit steht. Sein Nachfolger Graf Byland Baron 
zu Rheydt zog dann in dieses neue Haus ein. Zu etwas Eigenem schwang 
man sich auch jetzt nicht auf. Die Abhängigkeit vom Berliner Vorbild 
und die hoftheaterliche Horizontenge in Literatur und Oper blieb auch 
jetzt. 
Die novemberliche Umwälzung und die Republik brachte dann den 
Bruch. Jetzt suchte man den so lange verpaßten Anschluß an die Gegen- 
wart zu gewinnen, aber man hatte nicht mit dem Publikum gerechnet, 
das in Kassel besonders konservativ ist und das bei der Umstellung auf 
die Kühnheiten moderner Brauseköpfe eher erschreckt als erfreut war. 
Man wird es den zurzeit maßgebenden Männern im Auetempel (Walter 
Sieg als Intendanten und Regisseur, Robert Laugs, Dr. Ernst Zulauf, 
Dr. W. Pauli als Dirigenten, Alfons Pape als Schauspielregisseur und 
Mathieu Derichs als Opernregisseur) zubilligen müssen, daß sie über 
alle wirtschaftlichen Nöte hinweg die Arbeitsfähigkeit des Instituts zu 
steigern und den Spielplan auszubauen suchen, auch in Musikdrama 
und Schauspiel, Regie, Bühnenbild und Darstellung neue Wege gehen, 
wenn man auch Uraufführungen, in denen sich das tätige Miterleben 
am Geisteskampf der Gegenwart und eine gewisse Eigenpersönlichkeit 
am klarsten ausspricht, leider vermißt. Mag auch oft die organische 
Einheit in dem großen Schattenspiel fehlen und der Erfolg dabei be- 
scheiden sein, auch nach außen nur schwach in die Erscheinung treten,
	        
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