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eine gegebene strukturlose Masse zu einer organisier=
ten Welt zusammenfassend, einer Welt, deren ganze
Mannigfaltigkeit aus der Form wie aus dem Motiv abzu=
leiten sein muss - alles aus einem, und dies eine selbst
ein Unwirkliches, das "von aussen” der Wirklichkeit
auf gezwungen wird — das ist das tyrannische Prinzip
der Barockkultur, Und diese Tyrannei kann so gut nach
innen gehen wie nach aussen. Ja vielleicht ist niemals
66 so rein, so direkt intensiv komponiert worden wie von
Bach in gewissen Teilen des wohltemperierten Klaviers,
der Suiten und anderswo, Bach ist vielleicht der einzi=
ge reine Psychologe unter den Musikern, - Beethovens
grösste Innerlichkeit spricht sich gewissermassen durch
extensive Gleichnisse aus; sie ist ein Wandern durch
die Lande der Seele; Bach allein bleibt gleichnislos,
unsymbolisch, punktuell, rein intensiv psychologisch:
kein symbolisch=phantastisches Ausdeuten, sondern ein
direkt zwingendes Erfassen der innerlichen Mannigfal=
tigkeit. Dasselbe Zeichen scheidet den poetischen Ba=
rock von der Poesie der Benaissance, Die Novelle, die
eigenste Dichtungsform der Renaissance, bringt ein Ge=
schehnis, das sich a.n fertigen, unveränderten Menschen=
typen abspielt; Molieres Komödien entwickeln ein unver=
67 gessliches Individuum in einer schnell vergessenen Hand=
lung* Vielleicht ist es dieser intensiven Gewaltspsycho=
logie überhaupt erstmalig gelungen, völlig individuelle
Menschen zu erdichten, indem sie nämlich die Typen
nicht aus wirklichen Individuen zu bilden hatte, son=
dem sie als Material voraussetzen konnte, um aus ihnen
das Individuum von bloss künstlerischer WaJttheit zu for=
men. Ja es lässt sich ganz allgemein sagen, dass die
Kultur des Barock eigentlich die einzige ganz freie,
subjektive ist, die wir kennen; ohne irgendein (anneh=
mendes oder ablehnendes) Verhältnis zur"Wirklichkeit” /
zu dem, was nicht oder noch nicht Kultur ist; ihr zu
bewältigendes oder abzustossendes Material ist stets
68 schon verarbeitete Wirklichkeit, Ergebnis naturalisti=
scher oder formalistischer Kulturen. Darin liegt grade,
was ich den tyrannischen Grundzug des Barock nenne,
im Gegensatz zum baumeisterlichen der Renaissance, Der
Renaissancemensch mochte aus Atomen eine Zelle bauen, -
aus Zellen durch das Organisationsgesetz der Wechsel=
beZiehung den Organismus zusammenzuzwingen, das ist
das Werk des Barockmenschen, - den Organismus der nach
der Statik und Dynamik des Baumeisters (-Renaissance=
Gesichtspunkt-) nicht begriffen wird, sondern nur durch