Full text: Abschriften aus Tagebuchnotizen (Typoskript)

11 
Dramatisieren heisst einem Stoff intensiv«, 
29 episieren ihm extensive Mannigfaltigkeit geben. Der 
Dramatiker (der gewisserfassen "in infinitum" arbei= 
tet) hat eine Grenze, wenigstens eine ideale, näm» 
lick wenn er seinen Helden in seiner ganzen intensiven 
Mannigfaltigkeit dargestellt kaben würde; der Epiker 
dagegen arbeitet "in indefinitum", für die extensive 
Mannigfaltigkeit, die er ui seinen Helden kerum auf» 
baut, giebt es - prinzipiell - gar keine Grenze: das 
Epos würde immerfort Anstückelungen dulden. Der Epiker 
arbeitet "dramatisch", intensifizierend, in der Exposi» 
tion, wo er den Helden, um den sich die künftige Dicktun 
herumkrystallisi©ren soll, zunächst einmal selbst ß 
einfükren muss. In der Exposition der Ilias und 
30 Odyssee wird man daher kein© "epische Breite" finden t 
ganz natürlich: der Anlass in di© Breite zu gehn, muss 
hier erst geschaffen werden. Auch die Novelle (Boccacio) 
ist, solange sie exponiert, so kurz wie möglich; sie 
schafft sich mit bescheidenen Mitteln eine Situation, 
die der Dramatiker mit seiner ganzen Xu: st auf die Büh» 
ne bringt. Jm ©uripideischen Drama wird denn auch 
gradezu di© Exposition durch einen novellistischen 
"Prolog" ersetzt,- Es fragt sich jetzt, wann der Dra» 
matiker "episch" zu werden pflegt. Nach dem Gesagten 
ergiebt sich schon, dass er es erst da werden kann, 
wo er den Zuschauer so weit gebracht hat, dass dieser 
31 den Helden und die Situation nach ihrer ganzen inneren 
Mannigfaltigkeit erfasst hat. Gegen Ende also kann 
er in die Breite gehn und wird es sogar fast immer. 
Der Zu ckauer hat hier keine Bätsel mehr zu rauen, 
nicht die impressionistisch dargebotenen Einzelheiten 
zum Bild des Helden zusammenzufügen - er hat bloss 
noch zu verfolgen, wie die bekannten Faktoren jetzt 
weiter zusammengesetzt, multipliziert, ja potenziert 
werden. Er gerät beim ruhigen Nacnrechnen dieser 
Bechnung mit benannten Zahlen, bei der nur das Ergab» 
nis noch gewonnen werden soll (nicht mehr wie zu 
Anfang das "x” des Helden aus einer gegebenen Gl ei» 
chung gefunden werden soll) in jene sanfte, zuschauende 
32 Stimmung, die man als "epische" zu bezeichnen gewohnt 
ist. Es ist die Stimmung im Schlussakt des Wallenstein, 
der Braut von Messina, der Räuber, - ich will kein 
Repertoire hier ab schreiben (den Schlussakt der Göt» 
terdämmerung könnte ich noch nennen). Der Fehler 
bei Shakespeare wäre also nur, dass das. "epische" 
bei ihm rund einen Akt zu früh einsetzt. Der Zuschauer
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.