Full text: Handbuch des Kreises Melsungen (Jahrgang 18.1937)

Erbeben. Aber alles, was reif ist, muß geschnitten 
und eingebracht sein. Und so sah ich die Schwestern 
erzittern und unter der Schärfe des wabernden 
Messers fallen. Näher und näher kam mir der 
Bote des Todes. Ein Kühler Schauer des Ver 
gehens wehte mich an. Doch war ich bereit, das 
Schicksal der Aehren zu erleiden und mit den an 
dern im Schwaden niederzusinken. 
Flinke, sichelbewehrte Mädchenhände rafften uns 
auf und fügten uns in ein festes Band zu enger 
Gemeinschaft. Bald lag Garbe an Garbe, vom 
hohen Rain bis an die Straße hinunter, die in die 
Ferne verläuft, wo die hohen Wälder grünen, 
darüber die weißen Wolken am blauen Himmel 
stehen. Der Tag wollte sich schon in den Fur 
chen zur Ruhe legen, da stellten der Fungbauer 
und das Mädchen die Garben auf. daß Hügel au 
Hügel sich reihte, und oben daraus saßen wir Aehren 
wie schlichte Krönlein des Lebens. Die Sterne der 
Mitternacht funkelten auf uns nieder; der Tau der 
Frühe näßte uns; die Morgensonne scheuchte den 
Nebel, und die Glut des Mittags hauchte uns an. 
Auf den Erntewagen getürmt, fuhr uns der Fung 
bauer heim in die Scheune. Da lagen wir und 
harrten des Tags, der die goldene Last unserer 
Körner ans Licht bringen sollte. Doch zuvor kam 
das Mädchen mit lachenden Augen im braunen 
Gesicht zu uns herauf unters Giebeldach, faßte mich 
mit vielen meiner Schwestern und flocht uns zum 
Erntekranz. Auch andere aus unserer Sippe nahm 
sie hinzu: den stolzen Weizen, die stachelige Gerste 
uno den zierlichen Hafer. Dabei vergaß sie des 
bunten Geblüms und des würzigen Kräuterwerks 
nicht, das an den Rainen wächst. Reich und schön 
war die Erntekrone, an farbigen Bändern aus um- 
rankter Stange erhöht. So trug sie das Mädchen 
am Tage des Erntedankes dem Altbauer zu, der 
sie im Garten in den Rasen steckte. Und nun tanz 
ten sie alle den Erntereigen, und ich, die beschei 
dene Aehre, sah sie in fröhlichem Schwange. Und 
der Fungbauer tanzte mit seiner jungen Helferin. 
Und spät am Abend, als der Reigen ruhte und 
schon der Schlaf die Müden umfing, stand das 
Mädchen unter der Erntekrone, träumend vom Tag 
und was er gebracht. Da trat, fast schreckhaft für 
sie, der Fungbauer aus dem Dunkel heraus, stand 
vor ihr und legte mit werbender Geste den Arm 
um sie. Da stand ohne Worte seine Frage vor ihr: 
Wollen wir nicht alle Ernten unseres Lebens ge 
meinsam einbringen? — Sie schwieg und bot ihni 
den blühenden Mund, wie sich die Scholle der Saat 
bietet, um Frucht für Gottes Geschöpfe zu tragen.
	        
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