Full text: Handbuch des Kreises Melsungen (Jahrgang 16.1935)

kein Dummchen! Was jammerst Du denn, wo die 
Sache mit Hans und Dir einen so guten Anfang qe- 
nommen hat." 
„Guten Ansang — sagst Du? Das verstehe ich 
nicht." 
„Du wirst es bald verstehen und sehen, daß ich 
Recht habe. In der Osternacht ist schon manche Liebe, 
die jahrelang als tot und vergraben galt, oft auf eigen 
tümliche Weise zum Leben auferstanden." 
Kurze Zeit darauf ist Jettka umgekleidet und geht 
dem Gehöfte zu, das als Sammelpunkt für die jungen 
Spreewälderinnen bestimmt ist. Von Paula erblickt' sie 
keine Spur. Aus der 
Ferne vom Thurm her 
hallt feierlich das Mitter 
nachtgeläut, das den Be 
ginn des Ostertages ver 
kündet. Nun lassen die 
der Spinnte angehörigen 
Mädchen, die während 
des Winters durch die 
Kantorka einstudierten 
Osterchoräle erklingen. 
So schreiten sie die Wege 
entlang und steigen über 
die „Bänke", gewöhnlich 
vor dem Blockhause Halt 
machend, wo eine Sänge 
rin wohnt. 
Im Fluge enteilen 
die Stunden. Ein unbe 
stimmtes Zwielicht ver 
kündet den anbrechenden 
Oftermorgen. Da sind 
die singenden Mädchen 
bei dem ansehnlichen 
Kilke'schen Gehöfte ange 
langt. Wirt und Wirtin 
haben sich vor der Haus 
tür aufgestellt und laden 
die Sängerinnen zu 
einem Imbiß ein. 
Mari nimmt im hell 
erleuchteten, mit frischen 
Veichensträußchen ge 
schmückten Zimmer an 
der weißgedeckten Tafel 
Platz. Paula eilt ge 
schäftig mit Kaffee und 
Kuchen hin und her und 
bedient die Gäste, die 
sich bald in lebhafter Unterhaltung befinden. Sie 
flüstert Jettka zu: „Das gab ja einen Hauptspaß 
beim Wasserholen. Ich will Dir nachher erzählen." 
„Ich mag gar nichts hören. Ich habe genug ge 
sehen", gibt Jettka barich und finster zur Antwort. 
Paula ist fassungslos, sie versteht das Benehmen der 
Freundin nicht und geht weiter. 
Da öffnet sich die Zimmertür, und Hans, geleitet 
vom Wirte, betritt den Raum. „Hier bringe ich einen 
lieben, seltenen Gast", wendet sich der Wirt an die An 
wesenden. 
Niemand ist mehr überrascht und verlegen als 
Jettka. Verstohlen wirft sie einen Blick auf den An 
kömmling und freut sich, daß er ein so hübscher, statt 
licher Bursche geworden ist. Als Hans die einzelnen 
bekannten Mädchen mit Handschlag begrüßt und zu 
seiner Jugendfreundin kommt, erwidert diese seinen 
Händedruck nur zögernd und schenkt ihm keinen Blick, 
ein Vorgang, der besonders Paula nicht entgeht. 
Als Hans eine Stärkung an der Tafel eingenom 
men, winkt man ihn nach der Küche. Wirt, Wirtin 
und Burschen stehen geheimnisvoll lächelnd vor einem 
Korbe buntgefärbter Ostereier, die unter die einzelnen 
Sängerinnen verteilt werden sollen. Die jungen Män 
ner, darunter heimliche Verehrer Paulas, bitten den 
Gast, auf eins der Eier einkritzeln zu wollen: „Der 
Schönsten!" und dieses Ei dem Mädchen zu überreichen, 
welchem er den Preis der Schönheit zuerkennt. Hans 
schüttelt bedenklich den Kopf. „Das ist ein gefährliches 
Beginnen. Da stifte ich 
nur Unheil. Alle Mäd 
chen, mit Ausnahme des 
preisgekrönten, werden 
mich verdammen." Nach 
langem Zureden erklärte 
er sich bereit; denn plötz 
lich hatte er einen Ent- 
schutz gefaßt. Er bittet 
außerdem dargereichten 
Ei noch um eins für sich 
und begibt sich in einen 
Nebenraum mit dem 
Wunsche, nicht gestört 
zu werden. Schließlich 
erscheint er im Zimmer 
wieder. In einer launi 
gen Ansprache an die 
Tafelrunde erklärt er, 
zumPreisrichterernannt 
zu sein, um dem schönsten 
der Mädchen das beson 
ders gekennzeichnete Ei 
auszuhändigen. Eine 
bange verlegene Stille 
in dem Zimmer. Wer 
wird die Ausgezeichnete 
sein? 
Da verkündet der 
Richter: „Paula Kilko 
erhält das Ei!" Allseitig 
und meist neidlos be 
glückwünscht man die 
schöne Wirtstochter, auf 
der voll Stolz die Augen 
der Eltern ruhen. Das 
Herz Jettkas aber, es 
krampst sich zusammen, 
sie trägt ein so schweres 
Leid, wie sie es bisher noch nie im Leben empfunden, 
muß sie doch annehmen, daß Hans ihre Freundin liebt. 
Da verkündigt Schießen und fernes Glockengeläut 
den Aufgang der Ostersonne. Die Kantorka ermahnt 
zu schnellem Aufbruche. Beim wirren Verlassen des 
Zimmers zieht Jettka die Vorsängerin eilig beiseite und 
bittet leise um Befreiung vom weiteren Ostersingen, da 
sie sich krank und elend fühle. So gelingt es ihr unauf 
fällig, den Heimweg antreten zu können. 
Während der feurige Sonnenball sich erhebt, stim 
men die Sängerinnen das alte kirchliche Jubellied an: 
„Christ ist erstanden von der Marter alle". Langsam 
vergoldet das aufsteigende Tagesgestirn die erwachende 
Frühlingswelt und die festesfrohe Schar der weiter 
ziehenden singenden Mädchen. 
Nur Jettka sieht und hört nichts von den Wun 
dern und Zeichen des erwachenden Lebens. Meint sie 
Gstermorgen 
(jVe Lerche stieg am Ostermorgen 
^ Empor tn's klarste Luftgeblet 
Unb schmettert hoch im Blau verborgen 
Lin freubig Auferstehungslieb. 
Unb wie sie schmetterte, ba klangen 
Ls tausenb Stimmen nach im ^elbr 
wach auf. bas Alte ist vergangen! 
wach auf. bu froh verjüngte Welt! 
wacht auf unb rauscht burch's Dal. ihr Bronnen. 
Unb lobt ben Herrn mit frohem Schall! 
wacht auf im Lrühliugsglanz ber Sonnen. 
Ihr grünen Halm' unb Läuber all! 
Ahr Veilchen in ben walbesgrünben. 
Ihr Primeln weist, ihr Blüten ror. 
Ihr sollt es alle mit verkünben: 
Die Lieb' ist stärker als ber Tob. 
Ihr sollt euch all' bes Heiles freuen. 
Das über euch ergossen warb! 
Es ist ein inniges Erneuen 
Im Bilb bes Frühlings offenbart, 
was bürr war. grünt im wehn ber Lüfte, 
Jung wirb bas Alte fern unb nah. 
Der Göem Gottes sprengt bie Grüfte — 
Wacht auf! ber Gstertag ist.ba! 
«Seidel
	        
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