Protest des Kurfürsten
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Kurfürsten, der ihn ja nie mit seiner Gunst verwöhnt und im Stettiner
Vertrag übergangen hatte, nicht mehr gefesselt, und auch die Bande,
die ihn mit dem hessischen Lande und Volke selbst verknüpften, waren
— teilweise auch nicht ohne Schuld des Kurfürsten — nicht stark genug,
um ihn von dem folgenschweren Schritte abzuhalten, der am 26. März
1873 durch einen förmlichen Vertrag mit der Krone Preußen besiegelt
wurde. Obwohl dieser Vertrag, der dem Landgrafen für seinen Verzicht
eine erhebliche Erhöhung seiner Revenuen auf 250000 Taler aus dem
ihm von Rechts wegen zustehenden, aber in preußischen Händen befind
lichen kurfürstlichen Hausfideikommiß zusicherte, noch geheim gehalten
werden sollte, wurde sein Abschluß und Inhalt dem Kurfürsten doch
bald darauf unter der Hand bekannt?) Wäre Friedrich Wilhelm
nun bloß der selbstsüchtige Egoist gewesen, für den ihn viele hielten, so
hätte dies Abkommen ihm gleichgültig sein können, da seine persönlichen
und die Interessen seiner Familie dadurch nicht berührt wurden. So
aber fühlte er sich im Interesse des Landes und Gesamthauses Hessen
zu einer feierlichen Rechtsverwahrung vom 10. September 1873 ver
pflichtet, in der es hieß: „Das Land Hessen hat ein Recht darauf, daß
sein Fürstenhaus, in welchem es den Repräsentanten seiner Selbständig
keit erblicken muß, eingedenk der durch eine glorreiche Vergangenheit
geheiligten Pflicht, sich mit Treue und Festigkeit angesichts einer wider
alles Recht hereingebrochenen Vergewaltigung unbeugsam erweise, und
wie ich selbst diese Treue zu erproben, ungeachtet der schweren Opfer,
welche sie mir auferlegt, für die höchste und heiligste Aufgabe meines
Lebens erkenne, so werde und kann ich es auch niemals butben, daß
sie von den Gliedern meines Hauses außer acht gesetzt und untergraben
werde.... Daher sehe ich mich in meiner Eigenschaft als Chef des
Kurhauses zugleich genötigt, jede ohne mein Wissen und meinen Willen
gepflogene Verhandlung und getroffene Vereinbarung seitens eines Prinzen
meines Hauses mit der dermaligen usurpatorischen Regierung des Kur
fürstentums ... im Interesse der Ehre und des Rechtes des Kurhauses für-
völlig null und nichtig zu erklären und unbeschädigt von jeder der
artigen pflichtvergessenen Abmachrmg, allen geborenen und unge
borenen Nachkommen aus dem Hause Hessen ihr unver-
’) Dem Landgrafen ist sein Verzicht sicher nicht leicht geworden, und wenn
man einer Erzählung Bismarcks Glauben schenken darf, so hat er ihm später auf
einem Hofball eingestanden, daß er den Abschluß des Vertrags bereue, worauf
Bismarck ihm geantwortet haben will: er habe ihm ja auch keinen Rat dazu erteilt.
(„Hessenland" 20, 319.)