430
Provinz Hessen-Nassau und Regierungsbezirk Cassel
politischen Gebilde der westfälischen Zeit gehabt haben würde, scheiterte
nicht etwa an dem Widerspruch der neuen Untertanen — den scheute
er nicht — sondern an dem Mangel an Zeit und an Arbeitskräften. Nur
in der militärischen Organisation, die schneller arbeitete, zeigen sich noch
Spuren des ursprünglichen Planes. Die Bildung des „Regierungsbezirks
Cassel" erfolgte durch königliche Verordnung vom 22. Februar 1867.
Erst später wurde er mit dem „Regierungsbezirk Wiesbaden" durch eine
ebensolche Verordnung vom 7. Dezember 1868 zu einer „Provinz
Hessen-Nassau" vereinigt. So blieb wenigstens der Name Hessen
für das alte Kattenland erhalten, allerdings in einer unglücklichen
Verbindungsform, die in der Folgezeit sonderbare historische Begriffs
verwirrungen in den Köpfen der nachwachsenden Generationen an
richten sollte.
Die neue Regierung ließ es nicht an Mühe und Eifer fehlen, um
die Eingliederung der neuen Untertanen möglichst schnell zu bewerkstelligen,
und ihnen dabei die bittere Pille der Annexion — als solche wurde sie
doch von den weitaus meisten empfunden — nach Möglichkeit schmack
haft zu machen. Am besten gelang ihr dies bei dem in vieler Hinsicht
tonangebenden liberalen Bürgertum, das manchen Grund hatte, mit dem
Umschwung der Verhältnisse zufrieden zu sein. Die Fesseln des Zunft
zwanges fielen, die Konzessionspflicht für viele Gewerbe wurde auf
gehoben, und im Verkehr, im wirtschaftlichen Leben und besonders in
der bisher vielfach künstlich gehemmten Industrie zeigte sich bald ein
bemerkenswerter Aufschwung. Die Bautätigkeit in den Städten konnte
sich jetzt, ungehindert durch kurfürstliche Launen und Sonderlichkeiten,
frei entwickeln. Die Hauptstadt fing an sich auszudehnen, ihre Be
völkerungszahl wuchs zusehends, da die alten Erschwerungen des Zuzugs
mit der Freizügigkeit fortfielen. Das platte Land hatte allerdings die
Kosten dieses Fortschrittes zu tragen, indem seine Bevölkerung mehr
und inehr zurückging. War auch in Cassel der kurfürstliche Hof ver
schwunden, so blieb doch die Hoffnung auf eine Statthalterschaft, mit
der der preußische Kronprinz schon im August 1866 sich Bismarck
gegenüber einverstanden erklärt hatte. Der Kurfürst und die Casselaner
hatten seit vielen Zähren miteinander auf dem Kriegsfuß gestanden; der
die Spitze der neuen Regierung verkörpernde Herr v. Möller war
im Gegensatz zu dem früheren Landesherrn die Liebenswürdigkeit und
Bonhommie selber, und die Casselaner konnten es gar nicht abwarten,
bis sie ihm und seinem militärischen Kollegen v. Werder noch im
Annexionsjahr das Ehrenbürgerrecht verliehen hatten.