Full text: Geschichte des Kurfürstentums Hessen

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Oetker und die Annexionen Stimmung in Hessen 
Haltung der Selbständigkeit des Landes gerichtet war, konnte kein 
Zweifel fein. Das wußte auch Oetker, der selber mit der Mehrzahl 
seiner Genossen diesen Wunsch im innersten Herzen teilte, und nach 
seinem eigenen Geständnis gerade in diesen Tagen die „widerwärtigen 
preußischen Eigentümlichkeiten" besonders bitter empfand. „Gleichwohl 
mußte ich daran gehen", bekannte er später, „in der Morgenzeitung' die 
Bevölkerung nach und nach mit dem Gedanken vertraut zu machen, mit 
Preußen vereinigt zu werden." Er war wieder mehrmals in Berlin 
gewesen, hatte mit Eulenburg, Keudell (aus dem ostpreußischen Ziveige 
dieser hessischen Familie) und Bismarck selbst konferiert und seine 
Weisungen erhalten. Zn einer Mitternachtssitzung am 7. August wagte 
er sogar, auf die Stimmung in Hessen hinzuweisen: die Leute dort 
wollten Hessen, wollten zusammen bleiben, ihre Angelegenheiten selbst 
ordnen usw. Bon der geliebten Verfassung war schon nicht mehr die 
Rede. Bismarck schickte ihn mit einigen nichtssagenden Versicherungen 
wieder heim, und trotzdem Oetker sich über die „vorlaute Annexionslust 
einiger Casselaner" ärgerte, fing doch die „Morgenzeitung" jetzt an, ihre 
Register zu ziehen und mit den süßesten Flötentönen das Requiem für 
das mit ihrer Hilfe erdrosselte hessische Landesrecht einzuleiten. Bald 
konnte man in ihrem Anzeigenteil Offerten von schwarzweißen Fahnen 
finden und erfahren, wo man für zweieinhalb Silbergroschen das Preußen 
lied kaufen könne. Die alten Hessen aber, die nichts von der Annexion 
wissen wollten, waren unter dem Drucke der Verhältnisse zum Schweigen 
verurteilt, wie denn schon eine patriotische Kundgebung am Geburtstag 
des Kurfürsten vor dem Hause des Metropolitans Vilmar in Mel 
sungen durch die Strafversetzung des Metropolitans nach dem weltent 
legenen Dorfe Sand geahndet wurde. Sein Marburger Bruder zog sich im 
Zorne „über den ungeheuern Abfall vom Worte Gottes und im Abscheu 
vor den Abgefallenen" ganz in die Einsamkeit zurück, um in der Be 
schäftigung mit dem deutschen Volkslied wie einst Arnim und Brentano 
dem Gram und Schmerz über das Vaterland wenigstens auf Augen 
blicke zu entgehen. Rur von Hand zu Hand gingen wie vor sechzig Jahren 
geschriebene Flugblätter, die diesem Schmerze Ausdruck gaben und im 
Anklang an ein altes hessisches Volkslied klagten: 
O du Holzapfelbäumchen, wie sauer ist dein Kern. 
Wir Hessen werden Preußen und werden's doch nit gern. 
Einen Tag nach dem Abschluß des Prager Friedens, am 24. August, 
hielt der Bundestag in den „Drei Mohren" zu Augsburg seine letzte 
Sitzung ab, was der hessische Gesandte am nächsten Tage nach Stettin
	        
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