414
Oetker und die Annexionen Stimmung in Hessen
Haltung der Selbständigkeit des Landes gerichtet war, konnte kein
Zweifel fein. Das wußte auch Oetker, der selber mit der Mehrzahl
seiner Genossen diesen Wunsch im innersten Herzen teilte, und nach
seinem eigenen Geständnis gerade in diesen Tagen die „widerwärtigen
preußischen Eigentümlichkeiten" besonders bitter empfand. „Gleichwohl
mußte ich daran gehen", bekannte er später, „in der Morgenzeitung' die
Bevölkerung nach und nach mit dem Gedanken vertraut zu machen, mit
Preußen vereinigt zu werden." Er war wieder mehrmals in Berlin
gewesen, hatte mit Eulenburg, Keudell (aus dem ostpreußischen Ziveige
dieser hessischen Familie) und Bismarck selbst konferiert und seine
Weisungen erhalten. Zn einer Mitternachtssitzung am 7. August wagte
er sogar, auf die Stimmung in Hessen hinzuweisen: die Leute dort
wollten Hessen, wollten zusammen bleiben, ihre Angelegenheiten selbst
ordnen usw. Bon der geliebten Verfassung war schon nicht mehr die
Rede. Bismarck schickte ihn mit einigen nichtssagenden Versicherungen
wieder heim, und trotzdem Oetker sich über die „vorlaute Annexionslust
einiger Casselaner" ärgerte, fing doch die „Morgenzeitung" jetzt an, ihre
Register zu ziehen und mit den süßesten Flötentönen das Requiem für
das mit ihrer Hilfe erdrosselte hessische Landesrecht einzuleiten. Bald
konnte man in ihrem Anzeigenteil Offerten von schwarzweißen Fahnen
finden und erfahren, wo man für zweieinhalb Silbergroschen das Preußen
lied kaufen könne. Die alten Hessen aber, die nichts von der Annexion
wissen wollten, waren unter dem Drucke der Verhältnisse zum Schweigen
verurteilt, wie denn schon eine patriotische Kundgebung am Geburtstag
des Kurfürsten vor dem Hause des Metropolitans Vilmar in Mel
sungen durch die Strafversetzung des Metropolitans nach dem weltent
legenen Dorfe Sand geahndet wurde. Sein Marburger Bruder zog sich im
Zorne „über den ungeheuern Abfall vom Worte Gottes und im Abscheu
vor den Abgefallenen" ganz in die Einsamkeit zurück, um in der Be
schäftigung mit dem deutschen Volkslied wie einst Arnim und Brentano
dem Gram und Schmerz über das Vaterland wenigstens auf Augen
blicke zu entgehen. Rur von Hand zu Hand gingen wie vor sechzig Jahren
geschriebene Flugblätter, die diesem Schmerze Ausdruck gaben und im
Anklang an ein altes hessisches Volkslied klagten:
O du Holzapfelbäumchen, wie sauer ist dein Kern.
Wir Hessen werden Preußen und werden's doch nit gern.
Einen Tag nach dem Abschluß des Prager Friedens, am 24. August,
hielt der Bundestag in den „Drei Mohren" zu Augsburg seine letzte
Sitzung ab, was der hessische Gesandte am nächsten Tage nach Stettin