Der Kurfürst auf Wilhelmshöhe
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und kulturhistorische Eifer sich ebenso schnell abkühlte, wie die hochge
spannten Hoffnungen der Verfassungsfreunde.
Am 19. Juni war Kurfürst Friedrich Wilhelm zum letzten Male
in seinem Casseler Residenzschloß gewesen und gegen Mittag nach Wil
helmshöhe zurückgefahren, kurz ehe die Preußen durch das Frankfurter
Tor in die Stadt kamen. Er sollte sie in seinem Leben nie wieder be
treten. Warum war er überhaupt geblieben und nicht an dem einzigen
Platze, wohin er von Rechtsivegen jetzt gehörte, nämlich in der Mitte
seiner Soldaten? Seine Gemahlin hatte er nach Hanau geschickt, und
auch seine Abreise mit den Truppen war ursprünglich beschlossen gewesen,
wie er am 16. zu Abee bemerkte: „Das Hierbleiben würde so viel sein,
als den Preußen überliefert zu werden". Dann aber kamen die Einflüsse
seiner Umgebung, namentlich seiner Minister, dazwischen, die zuerst
meinten, es werde alles wohl doch am Ende nicht so schlimm werden,
dann aber noch am 20. dem Kurfürsten direkt rieten, möglichst lange
in der Residenz auszuharren?) Das sei das beste Mittel, die opferfreudige
Stimmung im Volke zu wecken und zu nähren, da der Kurfürst ent
schlossen sei, alle Leiden des Kriegszustandes mit dem Lande zu teilen.
Auch ein Trinkspruch des Thronfolgers, der die Hoffnung ausgesprochen
hatte: es werde ihm vergönnt sein, an der Spitze der Truppen den
Kurfürsten nach Cassel zurückzuführen, mag seinen Widerspruch geweckt
haben, wie er damals gleich ärgerlich bemerkte: „O, ich bin noch nicht
weg." So blieb er schließlich, indem er sich mit dem Gedanken beruhigte,
daß er doch keinen Krieg gegen Preußen zu führen beabsichtige, und daß
die Preußen nicht wagen würden, die Person eines nahen Verwandten
und bisherigen engen Verbündeten ihres Königs anzutasten. Er sollte
den unglücklichen Beschluß bitter bereuen.
Am 20. Juni ließen sich die Preußen zuerst auf Wilhelmshöhe
sehen, wohl aber nur in der Absicht, den Kurfürsten, dessen Verweilen
ihnen tatsächlich unbequem ivar, zum Fortgehen zu veranlassen. Als
er dennoch blieb, änderte sich ihr Verhalten. Wilhelmshöhe wurde zer-
niert, die kurfürstlichen Flügeladjutanten verhaftet, unb ihr Herr selbst
und seine ganze Umgebung in unwürdiger Weise durch die ins Schloß
eingedrungenen preußischen Offiziere drangsaliert und chikaniert, wobei
sich ein Hauptmann v. Lettow besonders auszeichnete. Run versuchte
der Kurfürst, trotz des Abratens des Ministeriums, durch ein Schreiben
des Oberhofmarschalls, das der Stallmeister Alban glücklich durch die
h Votum des Ministeriums gegen den Wunsch einer Eauvegarde, für die der
Feind doch nur unannehmbare Bedingungen stellen würde.