Die Haltung des Kurfürsten
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heit sein. Gewiß hätte der Kurfürst mit Verzicht auf seine Rechts
anschauungen dem Beispiel der preußischen Konservativen folgen können,
die damals auch ihre alten Grundsätze von Recht und Legitimität an den
Nagel hingen und mit Th. Bethmann-Hollweg sagten: „Man wird sich
wohl ain Ende hinter den tollen Kerl spannen müssen." War aber damit
seine landesherrliche Existenz, von Souveränität ganz zu schweigen, wirk
lich gesichert? Und gereicht es dem Kurfürsten zur Unehre, daß er das
Angebot von darmstädtisch Oberhessen zurückwies? Die Aussicht, den
größten Teil der Lande Philipps des Großmütigen wieder unter einer
Herrschaft vereinigen zu können, hatte ja zweifellos etwas sehr Ver
lockendes^), aber das preußische Anerbieten ähnelte in mehr als einer
Hinsicht der Versuchung, der Kurfürst Wilhelin I. sechzig Jahre früher
widerstand, als sich ihm die Möglichkeit bot, durch Napoleons Gnaden
König der Katten zu werden. Die Preußens Fahnen folgenden nord
deutschen Kleinfürsten blieben freilich „Souveräne" von Bismarcks
Gnaden. Die Annahme, daß auch der Kurfürst sich die Erhaltung von
Thron und Land gesichert, ja sogar dessen Vergrößerung erreicht habe,
wenn er die preußischen Forderungen erfüllte, ruht angesichts der, nicht
nur in dem italienischen Vertrag bekundeten, preußischen Annexions
absichten in Norddeutschland auf sehr schwachen Füßen. Bismarck ist
wenigstens später so ehrlich gewesen, sie nicht mit Bestimmtheit zu be
jahen. Andererseits zeigt das Beispiel Sachsens und Darmstadts, daß
die bundestreue Haltung allein nicht den Ausschlag gegeben hat.
Ein königstreuer Preuße, Hermann o. Gauvain, hat die Lage,
in der sich am 15. Juni die drei Fürsten von Hessen, Hannover und
Sachsen angesichts des preußischen Ultimatums befanden, folgendermaßen
gekennzeichnet: „Es stand einfach so: Wenn ihr tut, was Preußen will,
habt ihr Frieden, wenn nicht, so geschieht erst recht, was Preußen will,
d. h. auch dann habt ihr Frieden, vorausgesetzt, daß ihr Lumpenkerle
seid und es euch gefallen laßt. Der Historiker deutscher Abkunft wird
mit Entzücken berichten: Sie waren keine Lumpenkerle!" —
J ) Jedenfalls mehr Verlockendes, als das „Stück von Westfalen", das nach
den Erinnerungen des Stallmeisters Alban der österreichische Gesandte Graf Paar
deni Kurfürsten durch den Prinzen Moritz von Hanau versprochen haben soll. Daß
Graf Paar den Kurfürsten im Sinne der österreichischen Politik zu beeinflussen
suchte, ist selbstverständlich: daß er aber dem Fürsten durch das Versprechen, die
Sukzessionsfähigkeit der kurfürstlichen Kinder durchzusetzen, gewonnen habe, gehört
ebenso in die Rubrik des Hof- und Beamtenklatsches wie die Fabel, daß die Sorge
um die böhmischen Güter der Fürstin von Hanau bei der Entscheidung Friedrich
Wilhelms den Ausschlag gegeben oder überhaupt nur mitgesprochen habe.