Full text: Geschichte des Kurfürstentums Hessen

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Auswanderung Landeskatastrophen 
und Verfassungsfragen wenig kümmerten. Das widerlegt am besten die 
Legende, daß politische Gründe für ihren Abzug maßgebend gewesen seien, 
wenn auch das Schreckgespenst der Aufhebung der Ablösungsgesetze, womit 
Knobel und Genossen hausieren gingen, manchem Schwaitkenden vielleicht 
den Entschluß erleichterte. Die Auswanderung war im wesentlichen eine 
Folge der allgemeinen wirtschaftlichen Lage Deutschlands. Das Auftreten 
der Kartoffelkrankheit und die Mißernten der Teuerungsjahre 1852—57, 
zum Teil auch schreckliche Brandkatastrophen, wie die Brände von Fron 
hausen, Neukirchen und Waldkappel ‘) im Jahre 1854 hatten die geringer 
bemittelte Klasse der ackerbautreibenden Bevölkerung in eine mißliche 
ökonomische Lage versetzt und dem allgemeinen Strom der Auswanderer 
nach dem gelobten Lande des Goldes und der Freiheit zugeführt. Auch 
der Sieg der Eisenbahnen war nicht ohne wirtschaftliche Opfer erfochten 
worden. Das schnelle Verkehrsmittel öffnete dem Durchgangshandel neue 
Wege und warf dafür andere, seitabliegende Gegenden zurück. Die alten 
Handelsstraßen, die Kurhessen durchzogen, fingen an zu veröden, be 
sonders in den südöstlichen Landesteilen. Die meisten hessischen Aus 
wanderer gingen nach den Vereinigten Staaten, aber auch in Südamerika 
in der chilenischen Provinz Valdivia, in Osorno und am Llanguihue-See 
bildeten sich hessische Kolonien. 
Als gegen Ende der 50 er Jahre sich die allgemeine wirtschaftliche 
Lage besserte, da ging auch die Auswanderung ständig zurück, wie sich auch 
durch gleichzeitige Vermehrung der Geburten die Bevölkerungszahl stetig 
hob. Nach der Volkszählung von 1864 betrug die Einwohnerzahl Kur 
hessens 745000 Seelen, davon gehörten etwa 72 Prozent der ländlichen 
Bevölkerung an, und bei dem ländlichen Charakter der meisten hessischen 
Zwergstädte konnte noch ein Teil der übrigen 28 Prozent den Land- 
‘) Der Brand von Neukirchen am 20. Sept. 1854 machte etwa 500 Menschen, 
der von Waldkappel am 25. Oktober desselben Jahres etwa 1000 Menschen obdachlos. 
Von anderen Brand- und ähnlichen Katastrophen der späteren Zeit seien erwähnt: 
die Windhose in der Schwalm bei Moischeid, 25. August 1855 (11000 Taler Schaden); 
der Brand von Rodenberg, 6. November 1859 (40 Häuser); der Witzenhäuser Wolken 
bruch, 20. Mai 1860; der Brand von Hofgeismar, 15. Dezember 1861; der Brand von 
Frankenau, 22. April 1865 (von 227 Häuser» blieben 55 unversehrt); der Wolken 
bruch von Berneburg, 14. Juni 1864 (dem 8 Menschen, 100 Rinder, 2600 Schafe und 
Schweine zum Opfer fielen) und der Brand von Friedewald, 19. Oktober 1865 
(80 Häuser). Gegen die großen Schäden der verhältnismäßig zahlreichen Brände besaß 
Kurhessen in der schon 1767 auf den Antrag der Landstände begründeten General 
brandversicherungskasse ein sehr segensreiches Institut, das- seit 1825 auch Sachsen- 
Meiningen und Hessen-Homburg umfaßte. Doch war die Versicherung auch ein zwei 
schneidiges Schwert, wie die sich mehrenden „Spekulationsbrände" zeigten.
	        
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