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Der Internationale Herold.
zahlreichen Beispiele hinzuweisen, die aus den Kirchen
geschichten hinreichend bekannt sind, und unter denen das der
römisch-katholischen Kirche an erster Stelle genannt zu werden
verdient; außerdem werden wir uns mit einigen Seiten und
Folgen dieses Vorganges zu beschäftigen haben, wenn wir uns
jetzt der Stellung der Kirche in dem gesellschaftlichen und
politischen Leben zuwenden und ihr Verhältnis zu den Klassen
der Gesellschaftsordnung und dem Staate kurz erörtern.
Wo eine Religionsgemeinschaft ein ganzes Volk umfaßt und
die Gebote der Religion als oberste Gesetze anerkannt werden,
fallen religiöse und wirtschaftlich-politische Führung zusammen,
besteht die als Theokratie bekannte Staatsform, deren bekann
teste Beispiele in dem alttestamentlichen Judentume, besonders
bis zur Einführung der Monarchie, und in der ersten Zeit des
Islam gefunden werden. Kirche und Staat sind eins, die Regie
rung beruht in erster Linie auf der geistlichen Autorität, die
als von Gott verliehen gilt, die Gesetze gelten als Bekundungen
des göttlichen Willens, ebenso wie die gesamte Umgebung als
dessen Ausfluß betrachtet wird. Hierin besteht die Stärke und
auch die Schwäche der theokratischen Regierungsform, denn
solange die geistliche Autorität des Führers allgemein anerkannt
wird, wird seine Herrschaft nur durch die göttliche Macht be
grenzt. Die Schwäche liegt in dem erzwungenen Ultra-Konser
vatismus solcher Regierung, der jede Aenderung der Gesetze,
jede Anpassung an die Fortschritte der Erkenntnis überaus
schwierig macht, denn wenn sich der Wille Gottes so leicht
und schnell ändert als der der Menschen, kann ein fundamen
taler Unterschied nicht erkannt werden. Unterbleibt die An
passung allzulange, so droht Verfall der geistlichen Autorität,
der gesamten Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens. Ist aber
zeitweilige Anpassung, d. h. neue Auslegung des göttlichen
Willens erforderlich, so ist auch die Möglichkeit zu Meinungs
verschiedenheiten gegeben und droht Spaltung, die früher oder