Ueber Geschichtsauffassung.
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Inzwischen wankt die große Masse der Menschheit mühsam
und unter schweren Lasten stöhnend dahin auf dem Wege nach
ihrem Ideale der Selbsterhaltung. Die furcht- und schrecken
erregenden Mächte sind aus der Naturumgebung gewichen, aber
nur, um in den Werken des Menschen eine neue Stätte zu
linden; die Kräfte, die in seinen wirtschaftlichen und gesell
schaftlichen Einrichtungen zutage treten, gebärden sich ebenso
drohend, machen sich ebenso empfindlich fühlbar als jene, die
einst die guten Geister des Sonnenlichtes und sommerlicherWärme
besiegten, um das starre Kleid des Winters über die nährende
Mutter Erde zu breiten, und sie erscheinen dem Durchschnitts
menschen von heute fast ebenso geheimnisvoll, als jene unseren
heidnischen Vorfahren. Der Staat, gleich Thor, schleudert seinen
Hammer, schickt ganze Generationen in Tod und Verderbnis
und ist fast so unnahbar, so unfaßbar wie Odins Sohn. Als
jene neuen Produktionsweisen aufkamen, die der Menschheit
reichlichere und bessere Nahrungsmittel, bequemere und zweck
mäßigere Kleidung und Wohnung und tausend noch ungekannte
Annehmlichkeiten des Lebens verschaffen sollten, wurden die
unmittelbaren sozialen Folgen ihrer Einführung so wenig be
griffen, daß die Lehre des Malthusius von der Uebervölkerung
Tausende und Abertausende durch den Arm des Staates aus
ihrer Heimat und aus ihrem Vaterlande treiben konnte. An
der Schwelle des Zeitalters, das eine märchenhafte Vermehrung
der Bevölkerung ermöglichte und erlebte, als das Leben und
die Arbeitskraft jedes einzelnen Menschen in den jungen Industrie
gebieten einen um vielfaches erhöhten Wert für das Gemeinwohl
erhielt, predigte man den Unsinn von der Uebervölkerung, und
schätzte man Leben und Arbeitskraft der Menschen geringer
ein denn je.
Durch seine Fehler lernt der Mensch, und die Erfahrung
ist seine große Erzieherin; sie lehrt ihn, seine Umgebung zu
erkennen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, mit ihrer Hilfe