Umschau (Europa in Genua).
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flikt wahrscheinlich unvermeidbar. Die Gefahr solcher Ent
wicklung rechtfertigt größte Langmut und unermüdlichstes
Streben nach Verständigung, denn selbst ein magerer Vergleich
ist einem fetten Prozesse vorzuziehen, und die Zeit arbeitet
— nicht für England — aber für die allgemeine politische
Tendenz, die es jetzt vertritt. Einfaches Hinausschieben und
Warten wäre unter den allgemeinen Verhältnissen allerdings schwer
zu ertragen, zumal da es nicht die Lösung, sondern höchstens
die Möglichkeit leichterer Lösung bringen würde, und England
seine liberalere Politik nur mit gebundenen Händen und mit
dem französischen Klotze am Beine verfolgen könnte. Jeder
Versuch Englands, an der eigentlichen Wurzel des Hebels zu
rütteln, würde überdies den Bruch ebenso sicher herbeiführen
als jeder Versuch Frankreichs, seine Politik der Genugtuung in
die Tat umzusetzen. Nein, wir glauben, die Entscheidung muß
in Genua fallen, selbst auf die Gefahr des Bruches hin, und
wir glauben, Lloyd George ist sich dieser Notwendigkeit bewußt.
Die Entscheidung in dem englisch-französischen Gegensätze
würde auch die Methode der Konferenz bestimmen; ihr Aus
bleiben hindert den Gang der Verhandlungen, da sich der
Gegensatz in jeder Frage geltend macht, die verhandelt wird.
Immer wieder heißt es, soll diese Frage im Geiste der englischen
oder der französischen Politik behandelt werden, und dadurch
wird ihre sachliche Erörterung verzögert oder gänzlich unmög
lich gemacht. Der erste und wichtigste Punkt des offiziellen
Programmes betrifft Rußland und seine künftige Entwicklung.
Hier tritt der wirtschaftliche Imperialismus in seiner ganzen
nackten Häßlichkeit offen zutage. Das englische Memorandum
zeigt die unersättliche Gier dieser Menschenfreunde. Während
Millionen verhungern und im Elende umkommen, weil es dem
Lande und Volke an allem, auch den nötigsten Gebrauchsgegen
ständen, mangelt, präsentiert das Großkapital eine lange Liste
von Forderungen, die auch ein blühendes Rußland kaum erfüllen