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war, im kommenden Weltalter die Geschichte eine solche der
Länder des Atlantischen Ozeans sein wird.
Das deutsche Volk als solches hat bezüglich der Stellung
seiner Kaiser und ihrer Weltherrschattspläne früher nur unklare
Empfindungen gehabt und der Frage bestimmt kein regeres
Verständnis entgegengebracht. Aber merkwürdigerweise war dies
wohl in der Neuzeit anders geworden. Ich habe das Gefühl, als
ob mit der Neuerrichtung des deutschen Kaisertums in Jahre 1870
ein Rausch über das ganze Volk gekommen sei und sogar der
Gedanke, Europa unter seine Oberhoheit zu bringen, mehr und
mehr Raum gewonnen hätte. Mag sein, daß solche Gedanken
immer nur als vorübergehende Erscheinungen zu bewerten sind,
jedenfalls erinnere ich mich aus meiner Studentenzeit, die ich
zu einem großen Teil an zwei deutschen Universitäten verbracht
habe, daß ich diesen Drang nach Macht und Herrschenwollen
als einen unguten Zug des deutschen Wesens empfunden habe.
Und doch muß ich andererseits auch wieder anerkennen, daß
in solcher Willensäußerung vielleicht ein Körnchen Wahrheit
und vielleicht auch eine Forderung der Geschichte liegt, denn
dreimal haben die deutschen Völker Europa direkt oder wenigstens
indirekt zerstört:
Das erste Mal zur Zeit der Völkerwanderung, als sie an
verschiedenen Punkten aus den östlichen Ebenen hervorbrechend
den Bau des römischen Reichs zerstörten.
Das zweite Mal nach Luthers Auftreten, weil sie seine
Lehre und sein Wirken nicht in seiner vollen Tragweite begreifen
wollten und seinem genialen Gedankenflug nicht zu folgen im
stande waren, denn wäre das der Fall gewesen, dann hätte
Luther als mächtiger Reformpapst und Schirmherr der gesamten
Christenwelt nach vollbrachter Reformation enden müssen, und
cs wäre nicht zum Dreißigjährigen Krieg gekommen. „Reiner
und herrlicher hat wohl nie eine geistige Umwälzung begonnen
als Luthers Werk. Alles Eigene und Hohe des deutschen Wesens
war im Aufruhr, Luthers Tat entsprang den Tiefen der deutschen
Volksseele. Fast ganz Deutschland neigte zu seiner Lehre, aber
merkwürdig: kein deutsches Land ist heute evangelisch-lutherisch,