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Ich kann aus der angegebnen Ursache den höhepunct seiner auf alt
deutsche dichtungen gewandten critik nicht in den Nibelungen, vielmehr nur
in der kostbaren ausgabe von Wolframs werken erblicken, die keiner vor
ihm so befriedigend zu stände gebracht hätte, ihm sobald keiner nachthun
würde, er wählte sich aus innerm trieb den an gedanken und gemüt reichsten
dichter unsrer vorzeit und hat dessen tiefbegründeten abstand von Gotfried
von Strafsburg, welchen abstand wir zwar mehr in der bekannten stelle die
ses, als in einer uns erhaltnen Wolframs selbst ausdrücklich anerkannt fin
den, gewissermafsen wieder aufgenommen. Was anmut, was lebendigen,
weichen flufs der innigsten poesie angeht, steht Gotfrieds Tristan gewis hö
her, als Wolframs dunkler, schwerer Parzival, dessen inhalt auch lange nicht
so lockt und fesselt, wie im Tristan; allein Lachmannen wdderte schon die
unsittlichkeit der auf ehbruch und fälschung eines gottesurteils mitgegrün
deten fabel an, so wenig der lieblichen und aus dem menschenherz strömen
den dichtung die beschönigenden vorwände fehlen. Der sprachgewandte
Wolfram war aber auch werth, dafs gerade an ihm Lachmann die meister-
schaft seiner durchdringenden sprachkentnis bewährte; mit welchem tact er
in zahllosen fällen aus allen lesarten immer die richtige, gesunde herausge
funden hat, verdient bewunderung, er liefs damit alles, was für die heraus-
gabe irgend eines altdeutschen gedichts bis dahin geleistet war, weit hinter
sich, und sein ganzer feinhöriger text ist ein unerreichbares muster geworden
für alle die an so schweres ihre mühe ansetzen wollen. Nach solchen lang
sam aber in jedem schritt sicheren arbeiten stob ihm die critik des Iwein,
des Gregor und anderes leicht von der hand.
Aus denselben gründen zaudere ich nicht auch sein allerletztes werk,
seinen Lucrez als ein gelungnes meisterstück zu preisen, obgleich auf alt
römischem felde ich mir kein gleich sichres urtheil anmafse, aber auch der
unkundigere findet sich schnell davon überzeugt. Dieser dichter war wieder
seiner ganzen art und weise nicht minder angemessen als Wolfram, den ich
doch an poetischer gäbe höher stelle, insoweit beide überhaupt sich einan
der nur vergleichen lassen. Lucrez hatte die weihe edler, strenger gedan-
kenfülle empfangen, zuweilen erweicht er sich, und dann fliefsen ihm an
mutige verse, überall aber läfst er unmittelbar dahinter andere folgen, die
in ihrer wendung wie im ausdruck baare prosa sind. Ich wenigstens kann
dem von Lachmann hart angefahrnen ausspruche Bergks beistimmen, der