essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Dr 205
Jacob Grimm
heutzutage ungleich vorteilhafter gestellt und ausgerüstet, als zu jener zeit,
ja sie sind, kann man sagen, erst in unserm Jahrhundert zur wahren Wis
senschaft gediehen. Die art und weise nach welcher die classischen spra
chen ehdem betrieben wurden und in Wahrheit immer noch angebaut zu
werden pflegen (wie es auch den von mir gewis hochgestellten übrigen zwe
cken der philologie nicht unangemessen ist), führte nie oder blols zufällig
zu allgemeinen und entscheidenden aufschlüssen über das Verhältnis der
sprachen unter einander. Man mühte sich in das wesen der lateinischen
oder griechischen zunge einzudringen so weit es nöthig war, um den geist
kostbarer, für alle Zeiten bewundernswerther denkmale zu erfassen, die sie
hervorgebracht und auf uns überliefert hatten, und dieses geistes habhaft
zu werden, dazu gehört unermefslich viel. Solchem ziel gegenüber verhielt
sich der spräche noch so gewaltige äufsere erscheinungund form dienend;
wahrzunehmen was in ihr über den redebrauch, über die technik der dichter
und den inhalt der werke hinaus gieng, war der classischen philologie ge-
wissermafsen gleichgültig und von allen feiner eingehenden beobachtungen
schienen ihr fast nur solche w r erthvoll, welche der textcritik zu festem re
geln irgend verhelfen konnten, für sich selbst zog das innere gewebe der
spräche wenig an und wurde in seiner Schönheit und fülle gleichsam voraus
gesetzt, weshalb auch die auffallendsten Worterscheinungen, w r o sie ihrem be-
grif nach klar sich darstellten, meistens unerwogen blieben, etwa wie der
seine spräche fertig handhabende, in ihr waltende dichter fast keiner künde
ihres innern baus noch minder ihrer geschichtlichen Veränderungen bedarf
und nur hin und wieder ein seltnes wort aufsucht, dem er eine gelegne stelle
zu geben hat; war der grammatiker auch blofs ausnahmsweise irgend einer
ihm anstöfsigen wortgestalt der wurzel auf der spur, an welcher er seine
kunst zu üben trachtete. So erklärt sich warum lange jahrhunderte hindurch
die unabhängig fortgesetzte aufmerksame behandlung lateinischer und grie
chischer spräche auf der schule wie in den Stuben der gelehrten mit der ein
fachen formlehre am wenigsten vorrückte und fast nur für die halb schon
aufserhalb der grammatik liegende syntax früchte trug. Weder verstand
man, wozu diese beiden classischen sprachen gerade mächtig reizen musten,
ihre gestalten scharf an einander zu halten und w r echselsw r eise jede mit glei
cher berechtigung aus der andern zu erörtern, da man fehlerhaft die lateini
sche als unterwürfige tochter der griechischen ansah; noch weniger unsrer