32 Jacob Grimm
essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Dr 205
liare näher anzurücken und indem sich der ihnen selbst einwohnende sinn
allmälich abschwächt, mit dem wort das sie bestimmen sollten sich zu eini
gen. statt der bei verminderter sinneskraft der spräche schwer überschau-
lichen sonderbegriffe und unabsehbaren wortreihen ergeben sich wolthätige
anhäufungen und ruhepuncte, welche das wesentliche aus dem zufälligen,
das waltende aus dem untergeordneten vortreten lassen. Die Wörter sind
länger geworden und vielsilbig, aus der losen Ordnung bilden sich nun mas-
sen der Zusammensetzung, wie die einzelnen vocale in doppellaute drängten
die einzelnen Wörter sich in flexionen, und wie der doppelte vocal in dichter «
Verengung wurden auch die flexionenbestandtheile unkenntlich, aber desto
anwendbarer, zu fühllos gediehnen anhängen gesellen sich neue deutlicher
bleibende. Die gesamte spräche ist zwar noch sinnlich reich, aber mächti
ger an gedanken und allem was diese knüpft, die geschmeidigkeit der flexion
sichert einen wuchernden Vorrat lebendiger und geregelter ausdrücke. Um
diese zeit sehen wir die spräche für metrum und poesie, denen Schönheit,
wollaut und Wechsel der form unerläfslich sind, aufs höchste geeignet und
die indische und griechische poesie bezeichnen uns einen im rechten augen-
blick erreichten, später unerreichbaren gipfel in unsterblichen werken.
Da nun aber die ganze natur des menschen, folglich auch die spräche
dennoch in ewigem, unaufhaltbarem aufschwung begriffen sind, konnte das
gesetz dieser zweiten periode der Sprachentwicklung nicht für immer genügen,
sondern muste dem streben nach einer noch gröfseren ungebundenheit des
gedankens weichen, welchem sogar durch die anmut und macht einer vol
lendeten form fessel angelegt schien. Mit welcher gewalt auch in den chören
der tragiker oder in Pindars öden worte und gedanken sich verschlingen; es
entspringt dabei das gefiihl einer der klarheit eintrag thuenden Spannung,
die noch stärker in den indischen bild auf bild häufenden Zusammensetzun
gen wahrnehmbar wird; aus dem eindruck dieser wahrhaft übermächtigen
form trachtete der sprachgeist sich zu entbinden, indem er den einflüssen
der vulgaridiome nachgab, die bei dem wechselnden geschick der Völker auf
der Oberfläche wieder vortauchten. Gegenüber dem seit einführung des
christenthums versinkenden latein trieben auf andrer Schicht und unterläge
die romansprachen empor und neben ihnen machten sich im lauf der zeit
die deutsche und die englische spräche nicht einmal mit ihren ältesten mit-
teln, sondern in der durch die] blofse kraft der gegenwart bedingten mi-