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J. Grimm über zwei entdeckte Gedichte
alles Gefahr, und nichts ist den gütigen Gottheiten angelegner als schleunig
sie abzuwenden. Heilungen und Beschwörungen vorzunehmen war ein
Frauengeschäft ( ! ), darum sich auch hier vier hehre Göttinnen des Zaubers
unterfangen, obwol vergebens; erst dem Oberhaupt aller Götter gelingt es
ihn zu lösen. Das erste Lied gewährt uns Einsicht in das Amt höherer aber
untergeordneter Wesen; auf die Ausdrücke idis und haptband habe ich alles
Gewicht gelegt, das sie zu fordern scheinen, sie sind Fingerzeige uralter und
systematischer Religion.
Das Ergebnis wurde davon getragen, dafs die eigentliche Abfassung der
Gedichte zurück zu verlegen sei bis in den Zeitraum vor der Bekehrung,
mindestens in das achte Jh. Wie viel oder wenig stände wol der Annahme
entgegen, die Idisi seien, wenn nicht ganz der Form, wenigstens dem ge-
sammten Inhalte nach im zweiten oder dritten Jh. unsrer Zeitrechnung schon
wie im achten gedichtet gewesen? Dankbar ziehe die altnordische Mytholo
gie Beglaubigung des Alters, deren Abgang man ihr genug zur Last gescho
ben hat. aus unsern Handschriften des achten, neunten, zehnten Jh. für die
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ihrigen mühsam das zwölfte, dreizehnte erreichenden.
Dem ersten Geleise deutscher Mythologie darf darum so weit hinauf
nachgegangen werden, als den Spuren deutscher Sprache. Immer schon ein
gewaltiges Alter, fast von zweitausend Jahren, unvergleichbar freilich dem
höher gemessenen oder auch noch ungemessenen griechischer, indischer My
thologien, die von epischer bis zu dramatischer Fülle ungestört sich entfalte
ten. Unser einheimisches Heidenthum litt Unterbrechung, bevor es sinnliche
Kraft und Anmut, die man ihm nach dem nordischen Mafsstab nicht abspre
chen wird, geistig erhöhte und grofs zog, was ihm vielleicht doch versagt ge
blieben wäre. Es hat die Keime des Göttlichen. Seine rohen, nicht un
schönen Bruchstücke rühren uns, sie reizen gleich allem Vaterländischen zu
öfterer Betrachtung.
Wie man aber dem was ich auszuführen suchte zugethan sei oder ab
geneigt, es erweitern oder einschränken möge; das w r ird kaum Widerspruch
befahren, dafs von künftigen Forschern ältester deutscher Religion, Sprache,
Poesie oder Geschichte die Merseburger Denkmale, nachdem sie nun einmal
wieder ans Licht getreten sind, nicht vorbeigegangen werden dürfen. (*)
(*) Rindr singt galdr über Rän (Saem. 97); Gröa über Thorr und ihren todten Sohn.