Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Dr 195
aus der Zeit des deutschen Heidenthums.
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Zuthaten mangeln ihnen ganz, wodurch die jüngeren Formeln jenen practi-
schen Gebrauch, der von ihnen gemacht werden soll, einleiten. Eben
darum dürfen sie nun auch als wirkliche Überreste heidnischer Poesie, de
nen solch eine spätere Anwendung an sich fremd war, betrachtet werden.
Unter diesem Gesichtspunct sind sie von hohem Werth und geeignet,
uns über das allgemeine Verhältnis der deutschen zur nordischen Mythologie
Licht zu geben. Hierauf soll sich der Schlufs meiner Betrachtungen er
strecken.
Wer nachgedacht hat über das Verhältnis der nordischen Sprache zu
der deutschen wird auch von den verschwisterten Sagen und Mythen beider
Äste eines und desselben Volks eine richtige Vorstellung fassen. Die altnor
dische Sprache ist in zahlreichen Denkmälern rein erhalten worden, doch
nicht aus der ältesten Zeit. Seit uns in sparsamer fliefsenden, aber früheren
Quellen die Reste gothischer, althochdeutscher und angelsächsischer Sprache
genauer kund geworden sind, dürfen wir diesen neben entschiedner Ver
wandtschaft auch noch ihre volle im einzelnen bevorzugte Eigentümlichkeit
zugestehn. Alle Mundarten gehen zusammen, aber nicht in einander auf.
Für Religion und Volksglauben, die mit der Sprache innig verwoben
sind, wird genau dasselbe gelten. Die altnordische Mythologie, als die
vollständigst erhaltne, hat zwar in der Hauptsache den Ton anzugeben, aber
keinen Anspruch darauf, es überall zu thun. Die der Friesen, Franken,
Sachsen, Thüringer und jedes andern Stamms war durch Besonderheiten
ausgezeichnet, auf deren Spur wir jetzt erst recht zu achten anfangen. So
weifs die sächsische Überlieferung von Sahsnot und andern Wodaningen, die
dem Norden fremd geblieben sind. Kaum öffnet uns das kleine Lied von
Balders Fohlen noch einen Blick in den zugezognen altheidnischen Himmel,
alsogleich erscheinen zwei jenem Norden wieder unbewuste Götternamen,
Phol und Sinthgund. Welch grofse Fülle von Namen wie Dichtungen mag
z.B. den Gothen eigen gewesen sein, deren Sprache in Cultusausdrücken
noch offenbar zu der altnordischen sich hinneigt. Auf einen Mythus von
Balder sind wir gestofsen, dessen altnordische Quellen sämtlich geschweigen,
dem man dennoch uralte Allgemeinheit Zutrauen darf, wie sie jene neunordi
sche Beschwörungsformel aufser Zweifel setzt. Dieser einfach dargestellten
Fabel tiefem Sinn zu leihen kostet keine Anstrengung. Sobald des Sonnen
gottes Rofs erlahmt und er seinen Umlauf zu unterbrechen genöthigt ist, lauft