2
J. Grimm über zwei entdeckte Gedichte
essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Dr 195
aru
)
schritten unsicher und gehemmt seien. Dieser Schule und ihrem Stifter
danken wir manche erste Spur und Verfolgung bedeutender Sprachquellen
in Deutschland, Frankreich, Italien. Durch den gerechtesten Zufall ist
aber die Auffindung der Denkmäler, von welchen zu handeln ich mich eben
anschicke, demselben Gelehrten, Herrn Dr. Georg Waitz, überwiesen wor
den, der voriges Jahr, gleich unerwartet, wichtige Beiträge zu dem Leben
Ulfilas aus einer Pariser Handschrift lieferte.
Ein viel näherer Ort hat den gegenwärtigen Schatz uns so lange Zeit
sicher geborgen. Gelegen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige
Bibliothek des Domcapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und
genutzt worden. Alle sind einem Codex vorübergegangen, der ihnen,
falls sie ihn näher zur Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu ge
währen schien, jetzt aberjnach seinem ganzen Inhalte gewürdigt, ein Kleinod
bilden wird, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu
setzen haben. Auf mein Ansuchen ist mir von dem hoch würdigen Domca-
pitel die Handschrift selbst, welche ich hiermit königlicher Academie zur
Ansicht vorlege, bereitwillig mitgetheilt worden. Im Verzeichnis führt sie
No. 58, beträgt 92 Pergamentblätter, und ist in schmalem Quart (etwa un-
serm heutigen Grofsoctavformat) von sehr verschiednen Händen, auch zu
verschiedner Zeit geschrieben und zusammengeheftet worden. Auf dem
Rücken des Ledereinbandes liest man in alter Schrift: RABANI EXPOSI-
TIO SUPER MISSAM. Ein späterer, etwa im 15. Jh. dem Deckel aufge
klebter Streif gibt c expositio misse cum penitencionario\ Es würde mich
abführen, wollte ich die einzelnen lateinischen Stücke, die in dem Buch
bunt durcheinandergreifen, angeben, und ich habe nicht Zeit gefunden nach
zusehen, wie viel sich wirklich aus Rabanus Maurus aufgenommen findet;
mir genügt hier nicht zu vergessen, dafs auf Blatt 16 a in schöner Schrift des
neunten Jh. die schon anderweit bekannte deutsche Entsagungsformel (*),
wie sie den Täuflingen unter den neubekehrten Heiden vorgelegt wurde,
vorkommt; ich theile sie gleich einem oben auf Blatt 52 a befindlichen alt
deutschen Satze im Anhang I mit. Auf Blatt 84 a erscheinen aber von einer
Hand, die ich mit Sicherheit dem Beginn des zehnten Jh. beizulegen glaube( 2 ),
(*) Mafsmanns Abschwörungsformeln p. 67.68.
( 2 ) in der deutlichen gleichmäfsigen Schrift fällt die eigene Bildung des e auf, wie das
beigefiigte Facsimile zeigt.