Landesbibliothek, denn als erster Betreuer wurde im Testament der eben
genannte Karl Bernhardi vorgeschlagen. Wohl aber war hier an eine Bibliothek
auf einem neuen, von Tradition unbelasteten geistigen Grundriß gedacht, der in
den Bestimmungen des Testaments für einen zu stiftenden Murhard-Preis der
Stadt Kassel wohl zutreffend ausgedrückt ist: „Das Wohl der Menschheit, die
Förderung der Humanität, die Fortschritte der Bildung und Gesittung, die
Erweiterung des menschlichen Wissens, unserer Einsicht und Erkenntnis über
haupt“. Gedacht ist an ein in jeder Hinsicht bürgernahes Kulturinstitut, getragen
von einem dynamischen Fortschrittsglauben, der sich in der Geschichte der
Bibliothek bewährt hat und unvermindert fortgeführt zu werden verdient.
Das Konzept war von dem der Landesbibliothek in deren neuer Entwick
lung sicher nicht allzuweit entfernt, nur daß diese eben als Landesbibliothek auf
bestimmte Funktionen festgelegt war. Es hat sich denn auch ergeben, daß im
Laufe der Zeit die beiden Bibliotheken sich im wesentlichen nur durch festgelegte
Schwerpunkte in der Bücheranschaffung unterschieden. Daneben aber war das
Nebeneinander für beide Teile ein steter Ansporn, sich durch höhere Leistungen
auszuzeichnen und den Benutzern im Wettstreit zu empfehlen.
Dieser etwa ein halbes Jahrhundert währende Zustand wurde durch eine
Katastrophe beendet, die in der Bibliotheksgeschichte kaum ihresgleichen hat:
Die Vernichtung des gesamten Bücherbestandes der Landesbibliothek mit 400000
Bänden und von 150000 Bänden der wertvollsten Bestände der Murhardschen
Bibliothek. Am meisten zu beklagen ist der Verlust der Historischen Abteilungen
der Landesbibliothek mit ihrer einmaligen Hassiaca-Sammlung, bei der Murhard
schen Bibliothek die Vernichtung der auf der eigenen Bibliothek der Brüder
beruhenden, historisch wichtigen Abteilung Staatswissenschaften.
Der Wiederaufbau geschah in der Landesbibliothek durch antiquarische
Käufe in so raschen Tempo, daß ein ansehnlicher Teil der damals angeschafften
Bücher bis heute nicht ausreichend katalogisiert werden konnten. Es wäre gewiß
ein Geburtstagsgeschenk besonderer Art, wenn die Katalogisierung dieser
Restbestände, dazu der wertvollen Sammlung Feldhaus zur Geschichte der
Technik durch eine Sonderzuwendung ermöglicht würde. -
Sicherlich richtig aber war darüber hinaus die Überlegung, das Nebenein
ander der beiden wissenschaftlichen Bibliotheken in einer Stadt mit beschränktem
Benutzerpotential nunmehr zu beenden - womit wieder eine beispielhafte neue
Phase in der Kasseler Bibliotheksgeschichte einsetzte. Der Neuaufbau des nun
„Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel und Landesbibliothek“, kurz „Mur-
hardsche und Landesbibliothek“ genannten Instituts erwies sich trotz manchen
anfänglichen Widerspruchs von außen her als so fruchtbar und überzeugend, daß
schon im Jahre 1964 der Deutsche Bibliothekartag in Kassel stattfinden konnte -
mit dem Grundthema: Ausbau des Bibliothekswesens in der Bundesrepublik
Deutschland. Die Begründung und Angliederung des Brüder Grimm-Museums
und des ebenfalls neu geschaffenen documenta archivs sowie die schon frühzeitig
in ihren Einzelheiten geplante Außenstelle für Medizin im Stadtkrankenhaus
gaben der Bibliothek ein eigenes Gesicht und vermehrte Wirkungsmöglichkeiten.
Für die Funktion des Hauses als wissenschaftlicher Stadtbibliothek darf die
Schaffung eines neuen, benutzerfreundlichen Alphabetischen Katalogs - des
ersten seiner Art in Deutschland -, die Schaffung eines Schlagwortkatalogs und
die Durchführung der Sofortbenutzung genannt werden. Der Funktion als
Landesbibliothek diente der mit Vorrang betriebene Ausbau der Hessischen
Abteilung, die Einziehung der Pflichtexemplare unter Anwendung neuer Mittel,
die Neubelebung des Buchtausches, die Erstellung der Bibliographie des Schrift
tums über Kurhessen und Waldeck, die beschreibende Katalogisierung der
Handschriften in bisher zwei Bänden, und das erste Verzeichnis der schriftlichen
Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland trägt auf dem
Titelblatt den Vermerk: Bearbeitet in der Murhardschen Bibliothek der Stadt
Kassel und Landesbibliothek.