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Eduard Lohmeyer (1847-1927)
Die Rechtschreibreform
Sucht man die Kataloge der wissenschaftlichen Bibliotheken nach Veröf
fentlichungen Lohmeyers ab, überrascht die geringe Zahl selbständiger Titel.
Kein Wissenschaftler offenbar, nur ein Verwaltungsmann. Weit gefehlt! Loh
meyer war nicht nur ein guter Verwaltungsbibliothekar, auf dessen Arbeiten wir
uns im Hause heute noch ohne Zögern verlassen können, sei es als Verzeichner
von Handschriften, als Bibliograph, als Schriftführer der Grimm-Gesellschaft
usw., er war, und das soll hier behandelt werden, ein engagierter Verfechter
vereinfachter Rechtschreibung, und zwar der species phonetica.
Halten wir uns die Situation vor Augen: Eine Schrift, die etymologisch
richtig war, also die geschichtliche Entwicklung eines Wortes aufzeigte, zugleich
aber so phonetisch, daß sie die tatsächlich gesprochenen Laute wiedergab, hat es
so genau nie gegeben, wenn man vom Althochdeutschen absieht, wo am Latein
geschulte Mönche versuchten, mit lateinischen Buchstaben das heimische Idiom
nachzubilden. Schon das Mittelhochdeutsche, das uns in den Ausgaben der
großen Philologen des 19. Jahrhunderts (Lachmann, Grimm, Haupt, Leitzmann
etc.) entgegentritt, ist so kaum aus dem Mittelalter überliefert, es ist ein Idealbild,
wie ja unser Bild von jener hohen Zeit etwas vom Glauben an die blaue Blume der
Romantik hat.
Die Praxis war anders. Entartete, prunksüchtige Orthographie in den
Schreibstuben des Spätmittelalters, dann die Lautentwicklung, die das Frühneu
hochdeutsche vom Mittelhochdeutschen trennt, hier besonders die Dehnung
offener Tonsilben, die Diphtongierung etc., dann die Einführung von Majuskeln
für Substantive, die graphische Unterscheidung gleichklingender Wörter (lehren
und leeren) und vieles mehr schufen eine Orthographie, die sich immer weiter
von den Wortwurzeln und vor allem dem Gesprochenen entfernte. Reformversu
che gab es schon früh, vor allem im 18. Jh. (Hieronymus Freyer 1722 u. ö.,
Adelung 1788 etc.), aber erst im beginnenden 19. Jh. begann man systematisch
und mit deutscher Gründlichkeit, das Dickicht zu lichten. Karl Lachmann
(1793-1851) spricht in einem Brief aus Königsberg vom 9. 1. 1820 an Jacob
Grimm von unsrer barbarischen Orthografie; Jacob Grimm (1785-1863) setzt
sich schon früh, ausgehend von seinen Sprachstudien, mit diesem Problem
auseinander: 1821 plädiert er für die Einführung der Lateinschrift („Antiqua“),
1822 für die Verbannung der Majuskeln zunächst von den Substantiven, später
sogar von den Satz- und Absatzanfängen. Charakteristisch jene Episode aus der
Kasseler Zeit der Brüder Grimm, von der Wilhelm am 15. 1. 1828 an Karl
Hartwig Gregor von Meusebach berichtet; Die großen Buchstaben habe ich dem
Jacob zu gefallen verbannt, bei dem man sich durch nichts mehr einschmeicheln
kann. Er sagte neulich von einem jungen Mann, der auf der [Kasseler] Bibliothek
ein Buch erhielt, ,das ist ein recht ordentlicher und verständiger junger Mensch. ‘
Warum? ,Er hat den Empfangsschein mit kleinen Buchstaben geschrieben. ‘
Wilhelm war der Großschreibung gegenüber wesentlich toleranter.
Es dauerte bis zur Berliner Rechtschreibkonferenz von 1876, bis der
Föderalismus, der auch in der Orthographie groteske Kapriolen schlug, zugun
sten einer einheitlichen Empfehlung überwunden wurde. 1880 erschien Konrad
Dudens (1829-1911) „Vollständiges orthographisches Wörterbuch der Deut
schen Sprache“, das zur Grundlage für die deutsche Einheitsorthographie wurde.
Interessant übrigens, daß Duden zunächst zur phonetischen Partei gehörte, jener
Gruppe, die radikal den etymologischen Ballast abwerfen und eine reine
Lautschrift einführen wollte; später jedoch, rechtzeitig genug zur Rechtschreib
konferenz, mäßigte er sich, und so blieben die Phonetiker vor der Tür.