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Kassel / Hann. Münden (s/rgx), Die zweite Hochwasserflut kam in der Nacht.
Die Einwohner der Niestetaldörfer im Landkreis Kassel und im Kreis Münden "wurden
im Schlaf von den tobenden Wassermassen überrascht, die sich — wie bereits berichtet —
nach neuen, schweren Unwettern in der Nacht zum Mittwoch rauschend und gurgelnd zu
Tal ergossen. "Wiesen wurden zu riesigen Seen. Straßen — aufgerissen bis zu den Kana
lisationsleitungen — zur Kraterlandschaft. Brücken wurden vom Wasser „zerdrückt",
Grundmauern und Häuser weggeschwemmt. Hinter Schaufenstern schwammen Schuhe
und Lebensmittel, in den fast bis zur Decke mit Wasser gefüllten Garagen schaukelten
die Kraftfahrzeuge wie Kähne auf den Wellen.
In fieberhafter Eile räumten die er
schreckten Bewohner der tiefergelegenen
Ortsteile ihre Häuser. In Sandershausen
{Landkreis Kassel) war es für eine alte
Frau die Rettung in letzter Minute: Sie
hatte ihr Haus gerade verlassen, als es
rauschend und ächzend in den Fluten der
Nieste versank. Die Bewohnerin verlor in
drei Minuten ihre gesamte Habe.
Die Männer der Freiwilligen Feuerwehr
und viele Helfer in den Gemeinden stan
den bis zur Erschöpfung im Einsatz. Der
Schaden im Landkreis Kassel wird allein
auf über eine halbe Million DM geschätzt.
Die Nieste schwoli an
Die Katastrophe — zum zweitenmal in
vier Tagen — bahnte sich bereits in den
frühen Abendstunden des Dienstags an.
als heftige Gewitter mit wolkenbrucharti
gen Regenfällen über den Reinhardswald
und Kaufunger Waid niedergingen. Gegen
22 Uhr war das Wasser der Nieste bereits
weit über den normalen Pegelstand ge
stiegen, Bauna und Losse traten über die
Ufer. Mit einer noch nie erlebten Gewalt
bewegte sich eine riesige Flutwelle von
Escherode im Landkreis Münden, das be
sonders schwer von dieser Überschwem
mung betroffen ist, über Uschlag auf Hei
ligenrode zu.
Gewächshäuser versanken
Etwa gegen 23 Uhr hatte sie die Ge
meinde erreicht und setzte in kurzer Zeit
weite Flächen unter Wasser. Straßen und
Brücken wurden unpassierbar. Den schwer
sten Verlust erlitt eine große Gärtnerei in
Heiligenrode. Gewächshäuser und große
Anbauflächen gingen in den Fluten unter.
Etwa 40 000 Chrysanthemen und 2000 Al
penveilchen versanken im Wasser.
Sandershausen wurde von der Flutwelle
mit voller Wucht getroffen. Einwohner, die
gegen 23,45 Uhr noch auf den Brücken
standen, um das steigende Hochwasser zu
beobachten, konnten sich nur noch mit
einem Sprung retten, als die Brücken plötz
lich vom Wasser eingeschlossen wurden.
über einen Meter hoch stand das Was
ser auf den Straßen. Der Sportplatz „soff”
völlig ab. Im Maschendraht der Tore fin
gen sich die mitgerissenen Pflanzen. Holz
und Feldfrüchte wie in einem großen
Wehr.
Asphalt verschoben
Mühelos schoben die Wellen schwere
Steinstufen und quadratmetergroße
Asphaltklumpen vor sich her. In den Kel
lern stand das Wasser über, anderthalb
Meter hoch. Der Druck des Wassers war
so groß, daß die Kieste bei der Einmün
dung in die Fulda bis hinüber zum ande
ren Flußufer „schoß”.
Sandershausen, das im Laufe seiner Ge
schichte viele Überschwemmungen erlebt
hat, ist in den letzten 50 Jahren noch nie
so schwer heimgesucht worden, wie in der
Nacht vom Dienstag zum Mittwoch.
Hochwasserschäden entstanden auch in
Nieste im Landkreis Kassel. Die reißen
den Wassermassen zerstörten Straßen und ;
eine Brücke. Weite Landflachen wurden |
überschwemmt.
500 Sandsäcke in Bettenhausen
Audi in Kassel mußte die Berufsfeuer- ■
wehr mehrmals alarmiert werden, um i
Häuser und Gebäude vor überschwemmun- ;
gen zu schützen. Gefährdet war vor allem
das Barackenlager an der Losse, in der j
Nähe des Herwigsmühlenweges im Stadt
teil Bettenhausen. Fast 500 Sandsäcke •
mußten die Feuerwehrmänner in der schar
fen Kurve dieser Straße aufschichten, da- 1
Inmitten gurgelnder Wasserfluten
nimmt sich dieses einsame Hinweisschild „Schwimmbad 150 m"
wie eine Ironie des Schicksals aus. Von Heiligenrode bis zur Oris-
mitfe in Sandershausen reichte die Wasserfläche, die durch die von
Escherode herunterkommende Flutwelle der Nieste entstand,
üeber einen Meter hoch stand das Wasser auf den Straßen. Erst
am Mittwochnachmittag war die kürzeste Verbindung von San
dershausen zur Nachbargemeinde wieder passierbar. Vom San
dershäuser Sportplatz stürzten die Wassermassen im großen
Schwall in die Nieste. (Aufnahme: L)
mit die in den angrenzenden Wiesen ge
stauten Wassermassen in die Losse flie
ßen konnten, ohne die Baracken zu be
schädigen. Am Mittwochvormittag stand
das Wasser in diesem Stadtteil noch einen
halben Meter hoch.
Kleinere Einsätze riefen die Feuerwehr
zur Eichwaldschule in Bettenhausen, wo
die Keller zu „versaufen” drohten, und ins
Drusellal in die Nähe des Kneipp-Gesund-
heitshauses. Dort mußten vollgelaufene
Kanäle wiedeT freigemedit werden.
Auch die Bundesbahnlinien blieben vom
Hochwasser nicht verschont. Geröllmassen,
die zwischen Überhäufungen und Helsa
auf den Gleiskörper der Waldkappeler
Bahn geschwemmt wJ-ocn waren, brach
ten am Dienstag gegen 22 Uhr den Wa
gen eines Güterzuges zum Entgleisen. Der
Streckenabschnitt mußte gesperrt werden,
Omnibusse hielten den Reiseverkehr auf- .
recht. Ab 4.30 Uhr am Mittwochmorgen ;
war das Gleis wieder befahrbar.
Wie die Wetterwarte Kassel am Mitt
woch mitteilte, betrug die Niederschlags- ;
menge im Monat Juli bisher 121,3 mm.
Der Monatsdurchschnitt liegt bei 72 mm. I
Als am Mittwochnachmittag für einige
Stunden die Sonne herauskam, bot sich
den Einwohnern der vom Unwetter be
troffenen Gemeinden ein trostloses Bild:
Berge von Schlamm und Steinen, zerstörter
Hausrai auf den Straßen und nieder- j
gewalzte Wiesen und zerschlagene Felder
in den Gemarkungen.
Die Hoffnung, in Ruhe mit den Auf- ;
raumungsarbeiten beginnen zu können, [
trog: neue Gewitter am Mittwochabend
brachten neue Niederschläge und die Bach- ;
laufe begannen wieder zu steigen.
Donnerstag. 22. Juli 65
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Nummer 167
AUS DEM LANDKREIS
DIE ZWEITE FLUT KAM NACHTS