Full text: Geschichte II (3)

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Kassel / Hann. Münden (s/rgx), Die zweite Hochwasserflut kam in der Nacht. 
Die Einwohner der Niestetaldörfer im Landkreis Kassel und im Kreis Münden "wurden 
im Schlaf von den tobenden Wassermassen überrascht, die sich — wie bereits berichtet — 
nach neuen, schweren Unwettern in der Nacht zum Mittwoch rauschend und gurgelnd zu 
Tal ergossen. "Wiesen wurden zu riesigen Seen. Straßen — aufgerissen bis zu den Kana 
lisationsleitungen — zur Kraterlandschaft. Brücken wurden vom Wasser „zerdrückt", 
Grundmauern und Häuser weggeschwemmt. Hinter Schaufenstern schwammen Schuhe 
und Lebensmittel, in den fast bis zur Decke mit Wasser gefüllten Garagen schaukelten 
die Kraftfahrzeuge wie Kähne auf den Wellen. 
In fieberhafter Eile räumten die er 
schreckten Bewohner der tiefergelegenen 
Ortsteile ihre Häuser. In Sandershausen 
{Landkreis Kassel) war es für eine alte 
Frau die Rettung in letzter Minute: Sie 
hatte ihr Haus gerade verlassen, als es 
rauschend und ächzend in den Fluten der 
Nieste versank. Die Bewohnerin verlor in 
drei Minuten ihre gesamte Habe. 
Die Männer der Freiwilligen Feuerwehr 
und viele Helfer in den Gemeinden stan 
den bis zur Erschöpfung im Einsatz. Der 
Schaden im Landkreis Kassel wird allein 
auf über eine halbe Million DM geschätzt. 
Die Nieste schwoli an 
Die Katastrophe — zum zweitenmal in 
vier Tagen — bahnte sich bereits in den 
frühen Abendstunden des Dienstags an. 
als heftige Gewitter mit wolkenbrucharti 
gen Regenfällen über den Reinhardswald 
und Kaufunger Waid niedergingen. Gegen 
22 Uhr war das Wasser der Nieste bereits 
weit über den normalen Pegelstand ge 
stiegen, Bauna und Losse traten über die 
Ufer. Mit einer noch nie erlebten Gewalt 
bewegte sich eine riesige Flutwelle von 
Escherode im Landkreis Münden, das be 
sonders schwer von dieser Überschwem 
mung betroffen ist, über Uschlag auf Hei 
ligenrode zu. 
Gewächshäuser versanken 
Etwa gegen 23 Uhr hatte sie die Ge 
meinde erreicht und setzte in kurzer Zeit 
weite Flächen unter Wasser. Straßen und 
Brücken wurden unpassierbar. Den schwer 
sten Verlust erlitt eine große Gärtnerei in 
Heiligenrode. Gewächshäuser und große 
Anbauflächen gingen in den Fluten unter. 
Etwa 40 000 Chrysanthemen und 2000 Al 
penveilchen versanken im Wasser. 
Sandershausen wurde von der Flutwelle 
mit voller Wucht getroffen. Einwohner, die 
gegen 23,45 Uhr noch auf den Brücken 
standen, um das steigende Hochwasser zu 
beobachten, konnten sich nur noch mit 
einem Sprung retten, als die Brücken plötz 
lich vom Wasser eingeschlossen wurden. 
über einen Meter hoch stand das Was 
ser auf den Straßen. Der Sportplatz „soff” 
völlig ab. Im Maschendraht der Tore fin 
gen sich die mitgerissenen Pflanzen. Holz 
und Feldfrüchte wie in einem großen 
Wehr. 
Asphalt verschoben 
Mühelos schoben die Wellen schwere 
Steinstufen und quadratmetergroße 
Asphaltklumpen vor sich her. In den Kel 
lern stand das Wasser über, anderthalb 
Meter hoch. Der Druck des Wassers war 
so groß, daß die Kieste bei der Einmün 
dung in die Fulda bis hinüber zum ande 
ren Flußufer „schoß”. 
Sandershausen, das im Laufe seiner Ge 
schichte viele Überschwemmungen erlebt 
hat, ist in den letzten 50 Jahren noch nie 
so schwer heimgesucht worden, wie in der 
Nacht vom Dienstag zum Mittwoch. 
Hochwasserschäden entstanden auch in 
Nieste im Landkreis Kassel. Die reißen 
den Wassermassen zerstörten Straßen und ; 
eine Brücke. Weite Landflachen wurden | 
überschwemmt. 
500 Sandsäcke in Bettenhausen 
Audi in Kassel mußte die Berufsfeuer- ■ 
wehr mehrmals alarmiert werden, um i 
Häuser und Gebäude vor überschwemmun- ; 
gen zu schützen. Gefährdet war vor allem 
das Barackenlager an der Losse, in der j 
Nähe des Herwigsmühlenweges im Stadt 
teil Bettenhausen. Fast 500 Sandsäcke • 
mußten die Feuerwehrmänner in der schar 
fen Kurve dieser Straße aufschichten, da- 1 
Inmitten gurgelnder Wasserfluten 
nimmt sich dieses einsame Hinweisschild „Schwimmbad 150 m" 
wie eine Ironie des Schicksals aus. Von Heiligenrode bis zur Oris- 
mitfe in Sandershausen reichte die Wasserfläche, die durch die von 
Escherode herunterkommende Flutwelle der Nieste entstand, 
üeber einen Meter hoch stand das Wasser auf den Straßen. Erst 
am Mittwochnachmittag war die kürzeste Verbindung von San 
dershausen zur Nachbargemeinde wieder passierbar. Vom San 
dershäuser Sportplatz stürzten die Wassermassen im großen 
Schwall in die Nieste. (Aufnahme: L) 
mit die in den angrenzenden Wiesen ge 
stauten Wassermassen in die Losse flie 
ßen konnten, ohne die Baracken zu be 
schädigen. Am Mittwochvormittag stand 
das Wasser in diesem Stadtteil noch einen 
halben Meter hoch. 
Kleinere Einsätze riefen die Feuerwehr 
zur Eichwaldschule in Bettenhausen, wo 
die Keller zu „versaufen” drohten, und ins 
Drusellal in die Nähe des Kneipp-Gesund- 
heitshauses. Dort mußten vollgelaufene 
Kanäle wiedeT freigemedit werden. 
Auch die Bundesbahnlinien blieben vom 
Hochwasser nicht verschont. Geröllmassen, 
die zwischen Überhäufungen und Helsa 
auf den Gleiskörper der Waldkappeler 
Bahn geschwemmt wJ-ocn waren, brach 
ten am Dienstag gegen 22 Uhr den Wa 
gen eines Güterzuges zum Entgleisen. Der 
Streckenabschnitt mußte gesperrt werden, 
Omnibusse hielten den Reiseverkehr auf- . 
recht. Ab 4.30 Uhr am Mittwochmorgen ; 
war das Gleis wieder befahrbar. 
Wie die Wetterwarte Kassel am Mitt 
woch mitteilte, betrug die Niederschlags- ; 
menge im Monat Juli bisher 121,3 mm. 
Der Monatsdurchschnitt liegt bei 72 mm. I 
Als am Mittwochnachmittag für einige 
Stunden die Sonne herauskam, bot sich 
den Einwohnern der vom Unwetter be 
troffenen Gemeinden ein trostloses Bild: 
Berge von Schlamm und Steinen, zerstörter 
Hausrai auf den Straßen und nieder- j 
gewalzte Wiesen und zerschlagene Felder 
in den Gemarkungen. 
Die Hoffnung, in Ruhe mit den Auf- ; 
raumungsarbeiten beginnen zu können, [ 
trog: neue Gewitter am Mittwochabend 
brachten neue Niederschläge und die Bach- ; 
laufe begannen wieder zu steigen. 
Donnerstag. 22. Juli 65 
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Nummer 167 
AUS DEM LANDKREIS 
DIE ZWEITE FLUT KAM NACHTS
	        
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