Full text: Geschichte II (3)

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Stadt Kassel 
Samstag, 24. November 1984 
Ein Blick zurück (1066) 
Mit Hacke und Schippe zum Äutobahnbau 
Die Baustelle war festlich ge 
schmückt. Zwischen hohen, mit 
Girlanden umwickelten Masten 
hing das Schild der obersten 
Bauleitung. Auf schmalen 
Schienen stand tannenge 
schmückt die Lokomotive der 
Feldbahn. Kleine Fähnchen 
zierten die Kipploren. 
Es war Mittwoch, der 28. No 
vember 1934. An diesem Vor 
mittag vor 50 Jahren hatten sich 
auf dem Gelände in der Nähe 
von Sandershausen viele Men 
schen eingefunden, zu einem 
großen, weiten Kreis waren sie 
formiert: die Spitzen der Kasse 
ler Behörden, Organisationen 
der NSDAP, eine Abteilung des 
Reichsarbeitsdienstes mit einem 
Musikzug, Bewohner der umlie- 
§ enden Dörfer und vor allem 
chulkinder. In drei Reiben 
standen die Arbeiter mit ihren 
Geräten. 
Diese Arbeiter waren an die 
sem Tag eigentlich die Haupt 
personen. viele von ihnen muß 
ten bisher .stempeln gehen*, 
waren arbeitslos gewesen. Jetzt 
hatten sie wieder eine Beschäfti 
gung, denn nun sollte es mit dem 
Bau der Reichsautobahn zwi 
schen Kassel und Göttingen los 
gehen, und heute wurde feier 
lich der erste Spatenstich voll 
zogen. Ein Jahr zuvor (am 
23. September 1933) hatte Hit 
ler selbst einen ersten Spaten 
stich getan, jenen zum Bau des 
ersten Autobahn-Teilstücks 
zwischen Frankfurt und Darm 
stadt. Hier bei Kassel vollzog 
der NS-Gauleiter Weinrich nun 
diesen symbolhaften Akt. 
Gaupropagandaleiter Ger- 
nand eröffnete den Reigen der 
Redner. Der Chef der obersten 
Bauleitung Kassel der 
Reichsautobahnen, Direktor 
Liebetrau, sprach im Auftrag 
des Reichsbahn-Generaldirek 
tors Dorpmüller (kurioserweise 
war die Reichsbahn damals 
Hauptförderer des Autobahn 
baus) und des Slraßen-General- 
inspekteurs Dr. Todt. Er kün 
digte an, daß im kommenden 
Frühjahr bis zu 4000 Bauarbei 
ter an diesem Autobahn-Teil 
stück eingesetzt würden. Im 
Augenblick waren es etwa 400. 
Nachdem gemeinsam das Lied 
.Brüder in Zechen und Gruben* 
(eine Verfälschung des alten Ar 
beiterlieds .Brüder, zur Sonne, 
zur Freiheit") gesungen war, re 
deten die eigentlichen Partei- 
großen? Arbeitsfront-Gauwalter 
Herbert Köhler und Gauleiter 
Karl Weinrich, der dann auch 
den ersten Spatenstich tat. Alle 
Redner stellten den Autobahn 
bau als eine Erfindung, als eine 
gewaltige Errungenschaft der 
Nationalsozialisten hin. Das 
war bewußt eine Geschichtsklit 
terung. 
Erstmals war der Gedanke 
zum Bau von Nur-Autostraßen 
1923 aufgekommen, nachdem 
gegen Ende der Inflationszeit 
der Eisenbahnverkehr stockte 
und die Straßen zerfielen. Vor 
aüfem Politiker des damaligen 
Volksstaats Hessen (u. a. Dr. 
Adelung und Wilhelm Leusch- 
ner) förderten erste Pläne, die 
dann am 6. November 1926 zur 
Gründung der Studiengesell 
schaft .Hafraba e, V.“ führten. 
Diese Gesellschaft sollte den 
Bau einer Autostraße Hanse- 
städte-Frankfurt-Basel vorbe- 
feiten. Man erkannte natürlich 
auch, daß der Autobahnbau ein 
gutes Mittel sei, die Arbeitslo 
sigkeit zu dämpfen. Dem Projekt 
stand lediglich noch ein Para 
graph 'des Reichsfinanzaus- 
gleic£-Gesetzes entgegen, der 
aber nur vom Reichstag geän 
dert werden konnte. , . 
Diese Änderung wurde vor 
1933 nicht mehr erreicht. Hit 
ler, der zunächst zu den Geg 
nern des" Autobahnbaus gehör 
te, erkannte dann aber, welch 
gewaltiges Propagandamaterial 
zur Verherrlichung des Natio 
nalsozialismus das ganze Unter 
nehmen sein könnte. Von da an 
wurde die Erinnerung an die 
Anfänge des Projekts in den 
20er Jahren bewußt und syste 
matisch verwischt 
Wie das so üblich war, endete 
die Feier zum Auftakt des Auto 
bahnbaus bei Kassel vor 50 Jah 
ren mit dem gemeinsamen Ge 
sang der Nationalhymne. Dann 
ließ die Feldbahn-Lokomotive 
einen schrillen Pfiff ertönen. Das 
war das Zeichen zum Beginn der 
Arbeiten, die damals ja vorwie 
gend noch mit Schippe und 
Kreuzhacke ausgefübrt wurden. 
Keine drei Jahre später - am 
20. Juni 1937 - gab man das 
Teilstück Kassel-Göttingen mit 
der Abfahrtsstelle Kassel-Ost 
frei. Es wehten noch mehr Fah 
nen als beim ersten Spatenstich, 
und der Gauleiter befuhr die 
Autobahn nun in einem dicken 
Mercedes. Stolz meldete der 
Verwaltungsbericht der Stadt 
für das Jahr 1937: .Kassel ist 
durch die Gunst seiner Lage zu 
einem wichtigen Kreuzungs 
punkt im Autobabnnetz des Rei 
ches geworden.“ rff. 
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REICHSAUTOBÄHNEN 
Q.8.K.KASSEL 
LOS 8 GÖTTINGEH —KASSEL 
AUSFÜHRUNG! 
^ ^ GELÄNDE bei Sandershausen wurde vor 50 Jahren feierlich der erste Spatenstich zum Bau der Autobahn Kassel-Göttingen 
vollzogen. Unser rechtes Bild zeigt einen Teil der Festversammlung; darüber schwebt das Schild der Bauleitung. Das linke Bild macht 
deutlich, mit welch einfachen Mitteln die Arbeiter damals ans Werk gingen. (Fotos; Carl Eberth) 
2. Wenn noch ein Gesetz dem Baubeginn entgegenstand, warum 
wurde es nicht aufgehoben oder geändert ? Es waren doch 
fünf Jahre Zeit und ständig steigende Arbeitslosigkeit. 
Hier hat die Politik versagt ! 
3. Wie war es dann möglich, daß im September "1953 der erste 
Spatenstich für den Bau eines Teilabschnittes der Reichs 
autobahn zwischen Frankfurt und Darmstadt erfolgte um 
die Arbeitslosigkeit abzubauen? Es waren erst 9 Monate 
seit dem Regierungswechsel vergangen. 
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