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Mit Beendigung des deutsch-/französischen Krieges ("1870/71)
und der Gründung des Deutschen Reiches (l87l) wurde die
Grundlage für eine sprunghafte Aufwärtsentwicklung der Wirt
schaft eingeleitet. Es begannen die sogenannten "Gründer-
jahre". In dieser Zeit entstanden überall im Reich große
Industriebetriebe, von denen in Kassel die Lokoaaotivf abrik
Henschel & Sohn wohl die größte war. An den Orten, an denen
die Industrieansiedlungen am größten waren, wurden auch die
meisten Arbeitskräfte benötigt, und so ist es verständlich,
daß sich die Menschen von den neuen Arbeitsmöglichkeiten
angezogen fühlten.
In die industrieelle Entwicklung im Raum Kassel wurde -durch
die Nähe zur Stadt- das Dorf Sandershausen sehr schnell ein
bezogen. Die Folge war: Es bahnte sich auch eine Änderung
der sozialen Struktur der Einwohner an. Bisher konnten die
Einwohner im großen und ganzen in Bauern (Ackerleute); Hand
werker, die oft auch noch Landwirtschaft betrieben; in
Kleinbauern und dann noch in die sogenannten "kleinen" oder
"geringen" Leute, wie Tagelöhner, Dienstknechte oder Dienst
mägde unterteilt werden. Diese Unterschiede der sozialen
Stellung waren aber kaum erkennbar, denn dazu war das Dorf
zu klein und die Menschen zu sehr aufeinander angewiesen.
Durch den Bedarf an Arbeitskräften in der neu geschaffenen
Industrie suchten viele Tagelöhner und Dienstknechte der
Landwirtschaft, aber auch Kleinbauern nun in diesen Betrie
ben ihren Lebensunterhalt zu verdienen und wurden Fabrik
arbeiter. Die Zeit der sogenannten Landflucht begann. Diese
Landflucht wirkte sich natürlich auf die Bodenbewirtschaf
tung negativ aus.
Die größte Anzahl der neuen Fabrikarbeiter war in der Loko-
motivfabrik Henschel & Sohn beschäftigt. Sie wurden die
"Henschelaner" genannt. Die Arbeitszeit in den Fabriken be
trug zehn bis zwölf Stunden täglich und begann morgens um
6,00 Uhr. Fahrgelegenheiten gab es noch nicht und so wurde
der Weg morgens in die Fabrik und abends zurück auf "Schu
sters Rappen" zurückgelegt. Morgens so gegen fünf Uhr mar
schierten also kleine Grüppchen Sandershäuser Fabrikarbei
ter durch die Hellebergwiesen in Richtung "Henschelei" und
kamen abends auf dem gleichen Weg so gegen 2i,oo Uhr wieder
nach Hause. Sandershäuser Fabrikarbeiter, die in anderen
Betrieben ihren Lebensunterhalt verdienten, hatten zwar an
dere Fußwege zurückzulegen, aber der zeitliche Aufwand war
wohl annähernd gleich.
Die Arbeiter hatten sich dem Rythmus der Maschinen unter
zuordnen und standen auch damals schon unter einem ständi
gen Leistungsdruck der oft die physischen menschlichen
Kräfte überschritt. So konnte es nicht ausbleiben, daß sich
die Arbeiter sehr bald als vom Kapital ausgebeutet fühlten.
Es entstanden neue soziale Probleme. Der Begriff des arbei
tenden "Proletariats" wurde geprägt.
Um nun Spannungen abzubauen und soziale Probleme von der
Wurzel her zu lösen, wurde: Im Jahre 1885 das Gesetz der