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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm N
aus
Hanauer Anzeiger, Nr. 280,
1896, Nov. 30, S. 2- 3
x Noch eine Grimmfeier. Der sozialdemokratische Vereiit hatte auf
Samstag Abend in den „Nürnberger Hof' eine öffentliche Versammlung zwecks Ab
haltung einer Gebrüder Grimm-Feier einberufen. Bedeutend zahlreicher als sonst zu
politischen Versammlungen waren die Genosse« zu dieser Versammlung erschienen.
Das Referat hatte Herr Manfred Wittich aus Leipzig übernommen, ein begeisterter
Verehrer der beiden Gelehrten. Aber etwas anders als in anderen Köpfen malt
sich in dessen Kopf das Bild von der Bedeutung der großen Söhn- unserer Vater
stadt. Er ließ den Brüdern eine volle Würdigung ihres Ruhmes zu Theil werden
und konstatirte, daß selten die Erstehung eines Denkmals mehr im Sinne des
Volkes gelegen habe, wte die Errichtung des inmitten der Stadt Hanau stehenden
Grimmdenkmals. Männer der Kunst und Wissenschaft wollten auch die Sozial
demokraten auf die vornehmste Weise geehrt wissen, denn die Sozialdemokratie ver
trete den Standpunkt: „Nicht nieder mit Kunst und Wissenschaft, sondern her mit
Kunst und Wissenschaft." Das Proletariat wolle die edlen Güter der Kultur nicht
mehr den Bourgeois allein überlassen, vielmehr theilnehmen an den gewaltigen
Errungenschaften, und noch nie sei ein solcher Strom von Kunst und Wissenschaft
über das deutsche Volk gellossen, als dies seit Beginn der sozialdemokratischen
Arbeiterbewegung der Fall sei. Bei der Enthüllung des Denkmals, zu dessen Er
bauung seinerzeit auch sozialistische Blätter aufgefordert und sozialistische Bürger
ibr Scherflein beigesteuert hätten, seien wohl viele „loyale schwarz-weiß-preußische
Reden" gehalten worden, aber keine derselben werde darauf hingewiesen haben, daß
diese Männer auch volksthümlich dachten und auch den Kleinsten im Volk hoch
achteten. Ihm (Redner) ständen die beiden Volksfreunde und Volkswohlthäter
schon von seiner ersten Studienzeit nahe und einer der Fortsetzer des Grimm'schen
Wörterbuches, Professor Hildebrand, sei sein Lehrer und Freund gewesen. Die
Grimm erst hätten ihm durch ihre Schriften „den Star gestochen, daß nickt in den
goldenen Spitzen die Volkskraft liege, sondern in der breiten Masse". Mit ihnen
sei die Sozialdemokratie darin einig, daß alles Große, was im Volke geschieht,
Kollektivarbeit sei, wie auch in der Ansicht, daß alles Edle, Sitte. Recht, Religion.
Poesie rc. aus dem Boden des Volkslebens herauswachsen müsse. Immer und
immer wieder wäre von den Grimm darauf hingewiesen worden, wie alles Wohl
von unten komme. In ihrem ganzen Leben hätten sie dem altgermanischen Kom
munismus gehuldigt, denn alles, was sie gehabt und gethan, sei gemeinsam ge
wesen, und solches Zusammenarbeiten sei das Geheimniß der gffammten Kultur
geschichte. Ihr Patriotismus, der sich durch hingebende Liebe zum Volke und
inniges Zusammengehen mit dem Volke geoffenbart habe, sei der wahre und echte
und werde auch von den Sozialdemokraten gehegt und gepflegt. In manchen
Fällen berufe man sich heutzutage mit Vorliebe auf die Brüder Grimm,
auch von Parlamentariern sei dies unlängst geschehen, wenn jedoch die
Brüder heute niedersteigen und sehen könnten, was für Leute sich auf
sie stützen und zu welchen Zwecken, so würden sie energisch Protest dagegen erheben.
Eine ganze Reihe der heutigen Einrichtungen fänden gewiß nicht den Beifall der
beiden Geistesheroen. Obwohl beide keine Sozialdemokraten gewesen, so hätten sie
doch wenigstens das Ehrwürdige im Volke xezeigt und in mehr als einer Beziehung
wären sie durch ihr Sinnen und Schaffen den Proletariern verwandt, es könne da
rum nicht geduldet werden, daß sie die Bourgeoisie für sich allein in Anspruch
nehmen. In solcher und ähnlicher Weise suchte Redner cm der Hand der Biographie
und durch Citate aus ihren Werken „den Kern der Gesinnung und die ver
wandten Adern", die sie nach seiner Meinung mit dem Proletariat verbinden, !
bloßzulegen, kam allerdings dabei zu etwas seltsamen Beweisen. Besonders lange
verweilte er bei jenem durch die sieben Göttinger Professoren, darunter die beiden
Grimm, erhobenen Protest gegen den Verfassungsbruch in Hannover und bei der
Theilnahme Jakob Grimms am Parlamente in Frankfurt a. M., machte Ab
schweifungen auf die französische Revolution, den Erobernngszug Napoleons, die
Reformation, die er als eine große Wirthschaftsrevolution bezeichnete, das allge
meine Wahlrecht und schloß endlich mit den Worten: „Die Lehren Jakob Grimms
und die meines Vaters sind es gewesen, welche mich zum Sozialdemokraten gemacht
haben." Nach ihm nahm Genosse Hoch das Wort, um circa Blick auf die ver-
siossene Enthüllungsfeierlickkeit zu werfen. Er führte aus, wenn die Feier richtig
Hütte seien sollen, dann hätte sie, dem Geiste der Brüder entsprechend, eine volks-
tbümliche sein müssen. Aber gerade das Gegentheil sei der Fall; die Feier habe
sich vielmehr zu einem Hohn auf die Brüder, zu einer Herabwürdigung dieser
Männer gestaltet Man wäre zwar genöthigt gewesen, die Volksgroschen, die Ar
beiterkinder als Statisten, die Arbeiter als Sänger heran zuziehen, aber im weiteren
habe das Volk keinen Antheil nehmen dürfen. In ihrer ganzen Gestaltung sei die
Feier dazu angethan gewesen, die verkehrtesten Ansichten über die gefeierten Männer
zu Tage zu fördern. Darum hätte auf sozialistischer Seite die Nothwendigkeit vor
gelegen, zur Klärung gleichfalls eine Grimmfeicr zu veranstalten und diese Feier
ehre die Brüder mehr, als jenes Gepränge. Die „herrschenden Klassen" seien gerade
zu unfähig, große Männer des Volkes in richtiger Weise zu würdigen. Ein Ge
nosse Lchnert wollte nicht gelten lassen, daß Arbcitersänger herangezogen worden
wären, es seien d.es in Wirklichkeit lauter Leute gewesen, die allen und jeglichen
Klimbim mitmachten." Die Einlaßkarten seiner nach seiner Ansicht nur aus dem
Grunde ausgegeben worden, .damit das Volk den Bourgeois nicht zunähe kam."
Der Vorsitzende der Versammlung führte Beschwerde darüber, daß die „Volksstimme"
von der Grimmfeicr der Hanauer Arbeiter trotz erfolgter Aufforderung keine Notiz
genommen hatte und kündigte an, die Preßkommission werde in entschiedener Weise
gegen eine solche Geringschätzung der Hanauer Angelegenheiten protestiren Schließ
lich theilte der Vorsitzende noch mit, daß als nächster Redner Dr. Quarck aus Frank
furt gewonnen sei und für den Anfatig Januar kommenden Jahres Abgeordneter
Grillenbergrr aus Nürnberg. Um 11 Uhr war der offizielle Theil der Versamm
lung p Ende.