geworden ist. Es ist wahr, daß es sich damals überall auf
grammatischem Gebiete regte, bei uns und bei den Scandinaviern,
bei Czechen und Franzosen. Auch Jacob Grimm hat durch den
Dänen Rask wie durch seinen mittelrheinischen Landsmann
Franz Bopp zweifellose Förderung erfahren, aber unvergleichlich
größer war doch was er selbst leistete: die wissenschaftliche Er
forschung aller Sprachfamilien trat jetzt in seinen Bannkreis.
Auf den Weg zur Sprachvergleichung war man schon ohne
ihn gelangt, Sprachgeschichte als das Wesen aller wissen
schaftlichen Grammatik hat erst er gelehrt.
Jetzt konnte Jacob Grimm dem Marburger Lehrer, der
eben seine „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter"
erscheinen ließ, ebenbürtig die Hand reichen: auf Feldern, die
dem Bereiche der Geisteswissenschaften fast entrückt schienen,
Grammatik und positives Recht, hatten sie den entscheidenden
Sieg über das philosophische Jahrhundert errungen: den Sieg
über die Philosophie, die niemals im Stande sein wird, den
unendlichen Reichthum des historischen Lebens zu begreifen, den
Sieg über die Aufklärung, die sich mit seichtem Dünkel eine
Auswahl der Erscheinungen anmaßt, ohne ihre unerschöpfliche
Fülle mit dem Auge der Liebe geschaut, ihre verborgene Ordnung
mit dem Rüstzeug des Forschers ergründet zu haben. Wollte
Gott, daß uns zu dem neuen Kampfe gegen die alten Feinde des
historischen Erkennens, der dem kommenden Jahrhundert bevor
steht, abermals solche Männer erwüchsen!
Die Methode der empirischen Grammatik, wie sie Jacob
Grimm geschaffen hatte, war die vortrefflichste Schulung jeder
historischen Wissenschaft. Die „Andacht zum Unbedeutenden,"
die man an den Grimms zeitig verspottet hatte, hier ward sie zu
einer gebieterischen, sittlichen Forderung, die Achtung vor den That
sachen, vor dem werdenden und gewordenen, hier ward sie ans
Schritt und Tritt auch dem widerstrebenden Geiste aufgezwnngen.
Diese Schule ist Jacob Grimm selbst für alle seine späteren Arbeiten
zu gute gekommen, und durch ihn der gesummten Geschichts
forschung. Die „Deutschen Rechtsalterthümer" (1828) und die
„Deutsche Mythologie" (1835) sielen mitten hinein in den
fortschreitenden Ausbau der Grammatik, der mit dem Ende der
Göttinger Periode (Bd. 4: 1837) in's Stocken, leider nicht zum
Abschluß gelangt ist. An diesen beiden Werken durfte wieder
ein größerer Theil der Nation lernend und genießend Antheil
haben. Aus alten und neuen Quellen, die viele kannten, aber
keiner zu würdigen verstanden hatte, war ein stannenswerther
Reichthum poetischer Anschauung der Natur und des Lebens
zusammengetragen. Die historischen Probleme waren noch nicht
scharf erfaßt, aber der Geschichte unseres Volksthnms war ein
Hintergrund geschaffen: so reich und groß, daß uns alle Kultur
völker darum beneiden mußten. Jacob Grimm selbst ruhte
nicht: in seiner „Geschichte der deutschen Sprache" (1848) faßte er
alles, was ihm die eigene Forschung geworben hatte, mit den
neuesten Hilfsmitteln der vergleichenden Sprachforschung zusammen,
um die Schranken des Erkennens auch vor jenen Zeiten nieder
zureißen, in die keine litterarischen Quellen weder der Unsrigen
noch der Griechen und Römer hinausragen. Während ihm
aber sonst die Probleme aus dem Material hervorwuchsen, hat
er sie hier sich oft eigenmächtig gestellt und ist darum mehr als
anderwärts gescheitert.
Das letzte große Unternehmen, zu dem er sich wieder
mitdem Bruder vereinigte, das „Deutsche Wörterbuch" seit 1852,
erscheint als eine Art wissenschaftlicher Einkehr und Sammlung nach
kühnen Eroberungszügen. In den weiten Hallen des deutschen
Sprachschatzes luden die Brüder zur reichgedeckten Tafel alle
Volksgenossen zu Gaste; hochbetagt, und doch viel zu früh sind
die liebenswürdigsten der Wirthe abberufen worden, und über
ihrer theuersten Hinterlassenschaft haben nicht immer freundliche
Sterne gewaltet. Der Tod hat eine schier unheimliche Ernte
unter den Mitarbeitern gehalten, und wenn heute an dieser
Stätte Wünsche ausgesprochen werden dürfen, so mögen sie dem
Leben und der bewährten Arbeitskraft derer gelten, vor: denen
unsere Generation die Vollendung des nationalen Werkes er
warten darf.
Es war eine wissenschaftliche Machtstellung sonder gleichen,
die sich Jacob Grimm in den zwanziger und dreißiger Jahren
errang und die er bis an sein Ende, arbeitsgewaltig, aber fast
ohne Kümpfe, behauptete. In seiner Hand liefen alle Fäden der
deutschen Sprach- und Litteraturkunde, der historischen Rechts
wissenschaft, der Geschichte unseres Volkes zusammen. Er ver
körperte das Bild einer Wissenschaft von der Nationalität im
umfassendsten Sinne. Damals hatte die deutsche Philologie
unbedingt die Führerrolle, und von ihrem Vorbild haben nicht
nur die nationalen Wissenschaften der Nachbarvölker, sondern
auch die klassische und die orientalische Philologie nachhaltige
Anregung empfangen. Von uns lernte man die Quellen all
seitiger würdigen, die Aufgaben historisch vertiefen, die Methode
reicher ausgestalten.
Und wie ein ehrwürdiger Volkskönig der alten Zeit er
scheint Jacob Grimm: ihm nahen von allen Enden der ger
manischen Welt, die freiwillig seine Gefolgschaft gesucht haben,
und bringen ihm dar die Spenden, die keiner wie er zu würdigen
und an den rechten Platz zu stellen weiß: Ausgaben alter Ge
dichte und Rechtsbücher, Sammlungen von Märchen, Liedern
und Sagen, von Sitten und Bräuchen der Vorzeit und der
Gegenwart. Aber dies Bild des schätzespendenden Gefolgsherrn
und tributfrohen Herrschers ist nicht erschöpfend. Was Jacob
Grimm zu einem wahrhaft großen Gelehrten macht, das ist seine
nie erlahmende und nie ruhende Lernfreudigkeit. Von seinen
kleinen wohlabgerundeten Einzelgaben sind allerdings manche
direct dem reichgefüllten Schatzhaus seines Wissens entnommen,
aber in der Mehrzahl seiner Werke sehen wir ihn direct bei
der Arbeit: wir erleben mit ihm die Freude des Findens und
die Lust des Lernens und wir freuen uns an dem mühelosen
und anspruchslosen Gestalten, das nie der Anmuth entbehrt,
aber auch nie mit künstlerischer Prätension auftritt.
Es ist schwer zu sagen, was für die Zeitgenossen der
Brüder das größere Glück gewesen ist: ihre Persönlichkeit, oder
der Geist und Ertrag ihrer gelehrten Arbeit; denn beides zu trennen
ist nicht leicht. Niemals sind wissenschaftliche Gaben so im be
ständigen Gedanken an die Spender entgegengenommen worden.
Diese Gelehrten von unerschöpflichem Wissen waren zugleich die
Schutzgeister der Volkspoesie und die Poeten der Kinderstube; sie
wußten anderseits, wo es Noth that, ihre politische Meinung
mit Freimnth zu bekennen und die Feder des Journalisten
gewandt zu führen. Hatte sich anfangs um die Märchenbrüder
ein idyllischer Sagenkreis gewoben, so wurde das anders, als
sie die Göttinger Katastrophe als Männer zeigte, die nicht im
weichlichen Egoismus des Hauses und der Bücher aufgingen.
Von diesen reinen, guten Menschen ging ein Hauch sittlicher
Befreiung und Erhebung aus. In jenen trübsten Tagen der
neueren Geschichte, als sich zu dem Elend von Schleswig-Holstein
und der Verfassnngsnoth ihrer knrhessischen Heimath die Selbst
erniedrigung ihres Adoptivvaterlandes Preußen gesellte, da
wußten die Vaterlandsfreunde, daß in die Seelen der Brüder
all diese Schmerzen am tiefsten einschnitten, und nirgends glauben
wir heute den erregter: Pulsschlag der Nation deutlicher nach-
zufühlen, als in den mannhaften Erklärungen Jacob Grimms.
Das Ganze ihrer literarischen Thätigkeit und viele ihrer
Einzelschristen sind mächtige Förderer des nationalen Einheits-
Werkes gewesen: ja wenn wir zwischen unser klassisches Zeitalter
und das Zeitalter Bismarcks in der Entwickelung unseres Volks
bewußtseins eine Station benennen sollten, so dürfte sie gewiß
am ehesten den Namen der Grimms führen. Die Grimmschen
Märchen sind die reinste und reifste Frucht der romantischen
Periode, die einzige, der man Unvergänglichkeit weisagen kann.
Es war ein großer Segen für unser Volk, daß hier neben die
stolzen Kunstwerke der überragenden Genies zwei Bändchen
traten, die auch den mitschaffenden Antheil der Millionen Namen
losen am poetischen Hausschatz der Nation zu Ehren brachten.
Es war ein Versöhnungsmerk, wie es die Aufklärung mit all
ihrer gesuchten Volksthümlichkeit nicht zu Stande gebracht hatte.
Und es war nicht das einzige Versöhnungswerk der Brüder.
Sie haben die deutschen Stämme angenähert, indem sie Art
rrnd Erbe jedes einzelnen von ihnen ins Licht zu stellen wußten.
Sie haben das Laienpubliknm mit den Gelehrten ausgesöhnt,
nnd indem sie dem Dilettantismus Gebiete für immer entrissen,
auf denen sein Treiben die Wissenschaft lange hintangehalten
hatte, haben sie ihn anderseits zu nützlicher Mitarbeit auf dem
Neubruch der Volkskunde ermnthigt.
Und wer wollte die Fülle künstlerischer Bestrebungen auf
allen Gebieten aufzählen, die durch die Brüder direct und in-
direct wachgerufen, ermuntert nnd gefestigt sind?! Poeten wie
Gottfried Keller und Eduard Mörike, Gustav Freytag nnd
Jos. Victor Scheffel, Maler wie Moritz Schwind, Alfred Rethel
und Ludwig Richter, Torrdichter wie Richard Wagrrer nnd
Engelbert Humperdinck, um nur wenige Namen ans der schier
endlosen Schaar herauszugreifen, ihnen allen haben die Grimms
Wege gewiesen, Stimrnung nnd Stoffe geboten und, nicht zum
wenigsten, ein empfängliches Publikum bereitet. Nicht alles was
in ihren Bahnen gewandelt ist, würde ihren Beifall gefunden
haben: denn in der künstlichen Wiederbelebung des Abgestorbenen
erblickte Jacob Grimm mit strengem Urtheil nur einen Zug der
alten deutschen Pedanterie, und sein freudiger Optimismus
glarrbte, daß das wahrhaft lebensfähige sich auch selbst neue
Lebensformen schaffen würde.
Das deutsche Volk hat den Brüdern dieses Denkmal er
richtet, aber auf heimathlichem Boden steht es, und es waren
Heimathsgenossen, die dazu die erste Anregung gaben. Manche
von ihnen deckt heute schon die mütterliche Erde, und wir ehren
ihr Andenken und ihre Absichten, wenn wir uns zum Schluffe
klar machen, was wir Hessen an den Grimms gehabt haben
nnd warum wir ihnen mehr als andere Volksgenossen Dank
schulden. Unser Stamm, reich an Kriegshelden und bewährt
auf manchem Gebiet des öffentlichen Lebens, ist doch arm an
Poeten und arm an Historikern. In Jacob und Wilhelm
Grimm haben wir dem großen Vaterlande beides gegeben: sie
sind unsere großen Geschichtsforscher und unsere großen Dichter!
Es wäre Ruhmredigkeit, wollte ich hier versuchen, in ihrem
Wesen die Stammesart nachzuweisen: sie haben sich bekannt zu
uns bis zum letzten Athemzuge, und das deutsche Volk weiß
es! Der Biograph Jacobs, mein unvergeßlicher Lehrer Wilhelm
Scherer, beginnt sein herrliches Buch mit den Worten: „Jacob
Grimm war ein Hesse" — und der große Historiker, dessen
Tod wir vor wenigen Monaten beklagen mußten, weiß dem
hessischen Namen keinen herrlicheren Ruhmestitel, als dieses
Brüderpaar.
Hier in Hanau sind sie, als Söhne des Stadtschreibers,
von altsässigen Eltern geboren, das Kinzigthal hat ihre Jugend
spiele gesehen; in Marburg haben sie den für ihr ganzes Leben
entscheidenden Lehrer gefunden; von Kassel ans ist ihr Rrchm
in die Welt hinaus gedrungen; die Fuldaische Handschrift des
Hildebrandlieds war es, an der sie eine ihrer frühesten Ent
deckungen machten. Sie haben die Wiederkehr des vertriebenen
Landesfürsten mit Jubel begrüßt und den Auszug der hessischen
Freiwilligen auf dem Widmungsblatte einer rvissenschaftlichen
Gabe gefeiert: „Hessenblnt lebt immerdar!" Und als sie das
Hessenland, wo man ihre bescheidenen Ansprüche unbillig zurück
wies, mit tiefem Schmerz verließen, um in dem nahen Göttingen
weit rühmlichere Stellungen einzunehmen, da schweiften ihre
Blicke oft wehmuthsvoll zu den Bergen des Werrathales hinüber,
und Jacobs lateinische Antrittsrede handelte, wovon seine Brust
voll war: „de. desiderio patriae“ — über das Heimweh!
An allem Frohen nnd Trüben, was das Heimathland betraf,
haben sie, ob nah ob fern, lebendigen Antheil genommen. „Den
Eigenarten der Heimath", sagt Jacob, „fühl ich mich heftig zu
gewandt, selbst voll ihren Mängeln nnd Gebrechen berührt."
Die hessischen Verfassungskämpfe erschütterten die Brüder bis
ins Innerste, und mit den Worten: „Ein geborener Hesse bin
ich jetzt stolzer geworden auf meine Abkunft" leitete der Schwager
Hassenpflugs in Berlin einen Aufruf zu Gunsten der verfassungs
treuen Offiziere ein.
Es ist eine freundliche Jroriie des Schicksals, daß gerade
der hessische Gebietstheil, tu dem der Anschluß an die Land
grafschaft und an den Kurstaat nie so ganz rückhaltlos war,
dem engern Vaterlande die besten seiner Söhire geschenkt hat,
nnd daß die Hanauer, wenn sie die Grimms recht als die Ihren
festhalten wollen, sich mit ihnen als Hessen bekennen müssen.
Jenes undefinirbare Heimathsgut, das sich aus tausend gemein-
samen Erinnerungen, stolzen urid schmerzlichen, heitern und
trüben zusammensetzt, das haben die Brüder stets und gern
mit dem Hessennamen genannt. In das ihm so vertraute
Dickicht der Deutschen Grammatik, das der heutigen Generation
der Germanisten fast zum Urwald geworden zn sein scheint,
pflalizte Jacob Grimm mit stiller Freude manche Blunre ans
heimischer Lectüre nnd heimischer Sprechweise. Und als sie
beide vor dem freudig erstaunten deutschen Volke eine ungeahnte
Fülle von Volkspoesie rmd ungewürdigten Resten vorzeitlichen
Brauches ausschütteten, und jeder unwillkürlich fragte: Wo siird
denn diese Schatzgräber zu Hanse?! da gaben sie fröhlich zur
Antwort: in Hessen!
Nun, wir müssen den größten Antheil an diesem Ver
dienste den Brüdern Grimm zuschreiben und uns mit einem
kleinen begnügen. Wir wollen sie nicht zn Herolden unseres
Ruhmes machen, aber ehre:: wollen wir sie als Hüter unseres
guten Leumunds. Sie haben uns im Angesicht des tragischen Ver
falls unserer einst so glorreichen und vom Volke geliebten
Dynastie und dicht vor dem Untergang unserer staatlichen
Selbständigkeit, den sie als unabwendlich voraussahen, ein Beispiel
gegeben, wie wir uns auch in einem größern und mächtigern Staats
wesen unserer Erinnerungen und Vorzüge bewußt bleiben dürfen.
Sie haben für uns in der großen Familie der deutschen
Stämme ein freundliches Vorurtheil gelveckt. Lassen Sie uirs
heute geloben, daß wir es hinnehmen wollen — als eine heilige
Pflicht — im Segen ihre s Andenkens!