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Beilage zu Nr. 250 der Hanauer Zeitung.
Fest-Vortrag
des Profestors Dr. Edward Schröder aus Marburg,
gehalten zur
Feier der Enthüllung des National-Denkmals der Brüder Grimm
zu Hanau am 18. Oktober 1896.
Hochgeehrte Festgenossen!
Unsere Zeit, die auf vielen Gebieten des öffentlichen
Lebens so ungestüm Neues fordert und oft so leicht bereit ist,
das Alte hinzugeben, hat doch keine eigenen Formen geschaffen,
um das Andenken großer Männer und der Lieblinge des Volkes
zu feiern. Wenn wir ihre Bildsäulen in Erz oder Marmor
hinstellen, ahmen wir eine Sitte nach, die die Völker der Antike
unter wesentlich andern Knltnrverhältnissen ausgebildet haben,
und indeni wir die musischen Künste entbieten, das Fest der
Weihe zu schmücken, wiederholen wir uralte Brauche der Opfer-
nnd Siegesfeier. Das Bild freilich, das wir soeben mit Ent
zücken geschaut haben, trug der Eigenart unserer heutigen Feier-
volle Rechnung: und wenn die Brüder Grimm, deren schlichtes
Wesen sonst vor jeder Schaustellung, vor jeder lauten Huldigung
znrückbebte, ans seligen Höhen auf ihr eben enthülltes Denkmal
herniederblicken durften, so wird es ihnen durch den fröhlichen
Märchenzug der Hanauer Kinder am schönsten geweiht erscheinen.
Das deutsche Volk hat jenes Bild vor dem Grimm
schen Wörterbuche, das Jacob so gern zurückgewiesen hätte, längst in
sein Herz geschlossen, es wird auch an diesem schönen Denkmal
seine Liebe festigen und erneuen!
Der Redner aber, den Sie berufen haben, als ein Jünger
der historischen Wissenschaft vom Deutschthum zu Ihnen von
denen zu sprechen, die diese Wissenschaft begründeten, ihn bindet
keine feste Tradition des Panegyrikus: ich darf und ich will
mir der wissenschaftlichen und persönlichen Verantwortung be
wußt bleiben gegenüber den Gefeierten, mit denen mich seit
dem ersten Erwachen gelehrter Neigungen ein selten unter
brochener geistiger Umgang verbindet. Wenn ich also in die
Stadt der Edelschmiede als Festgabe kein schimmerndes Wort
geschmeide mitbringe, so wird die Aufrichtigkeit der persönlichen
Hingabe einen Ersatz dafür bieten müssen.
Das Leben und Schaffen der Brüder Grimm, ihre
Persönlichkeit und die Früchte ihrer wissenschaftlichen Arbeit
gehören nicht nur der Welt der Gelehrten an, sie sind ein un
vergänglicher Besitz ihres Volkes, ein Segen und der Stolz
ihrer engeren Heimath geworden. In die ideale Welt jedes
Einzelnen ragt etwas davon hinein, sie bedürfen keines Apostels
oder Propheten, sondern nur des Historikers, der an diese
tausend unsichtbaren Fäden anknüpfend die Bedeutung des Brüder
paares für den Aufschwung der Wissenschaft und des Nationalbewußt
seins, für die Ehre des Hessennamens zu schildern versucht.
Wie ein vertrantes Buch liegt das Leben der Brüder
vor uns aufgeschlagen. Es war in der Jugend nicht frei von
Entbehrungen und auf der Höhe des Mannesalters von heftigen
Erschütterungen umtost. Und doch ist es das Gesammtbild
eines Gelehrtenlebens, so glücklich und reichgesegnet, wie die
Geschichte keines wieder bringen wird. Alles was Zwang und
Hemmniß schien, ist ihnen zur Befreiung geworden; so oft sie
aus einer ruhigen Bahn und gefestigten Lebensplänen heraus
gerissen wurden, war ihnen eine reichere Entfaltung ihrer Kräfte
und eine Erweiterung ihres Wirkungskreises beschieden. Der
Sturm, der sie in Göttingen entwurzelte, hat dem deutschen
Volke erst gezeigt, was es an ihnen besaß, und er hat ihnen eine
allseitige Liebe offenbart und ein Vertrauen geweckt, wie es nie
mals zuvor Männern der reinen Wissenschaft zu Theil geworden
ist. Mit tiefer Frömmigkeit haben die Brüder dieses sichtbare
Walten der Vorsehung gepriesen, dankbar erkannten sie auch
die erziehende Macht der dürftigen Verhältnisse, ans denen sie
hervorgegangen waren.
Als Jacob und Wilhelm, die ältesten Brüder einer-
reichen Geschwisterschaar, die den Vater früh verloren hatte,
im Jahre 1802 kurz nacheinander die Landesuniversität bezogen,
brachten sie außer einer angeerbten Arbeitslust und einer seltenen
Fähigkeit, die Gegenstände ruhig aufzunehmen und rein auf
sich wirken zu lassen, keine nennbaren oder gar entwickelten
Fähigkeiten für einen gelehrten Beruf mit. Die Schule hatte
ihnen wenig geboten, den Lehrern waren diese feinern Naturen
fremd geblieben, und ein älterer männlicher Verwandter, der
sie hätte fördern und leiten können, hatte der Familie gefehlt.
Der Neigung Jacobs, klassische Philologie zu studiren, stand
der Wunsch des seligen Vaters entgegen, der der Mutter ein
heiliges Vermächtniß schien. So führte sie ein leiser Zwang
zur Rechtswissenschaft — zu ihrem und zu unser aller Heile!
Von der klassischen Philologie, wie sie damals in Marburg
getrieben wurde, hätten sie den Weg zum deutschen Alterthum,
das sie uns wissenschaftlich entdecken und erobern sollten,
schwerlich gefunden — in der Juristenfakultät aber lehrte der
Mann, der wie kein zweiter damals auf deutschen Kathedern
ihnen das Leben der Geschichte erschließen konnte.
Die Hanauer dürfen stolz daraus sein, auch Friedrich
Karl von Savigny zu den ihrigen zu zählen: den großen
Meister des größer» Schülers. Eine Hanauerin war seine
Großmutter, und auf dem Trages, dem Gut, das sie der Familie zu
gebracht hatte, hat sich der Professor und der Minister am meisten
heimisch gefühlt. Das Postament des Denkmals hätte vielleicht
den Platz geboten, dieses einzigartige Verhältniß von Lehrer
und Schüler im Relief andeutend festzuhalten. Freudig haben sich
die Brüder zu den tiefgehenden Anregungen Savignys bekannt,
und unbedenklich führte Jacob auf ihn seine ganze wissen
schaftliche Richtung zurück. Das Bild des großen Rechts
gelehrten, wie es uns erst die Schriften der nächsten Jahre
enthüllen, haben die Grimms schon damals in sich aufgenommen:
das energische Vordringen zu den Quellen und die Gabe, die
Thatsachen und Erscheinungen so hinzustellen, wie er selbst sie,
unbeirrt von philosophischen Doctrinen, rein angeschaut hatte.
Es war eine große Offenbarung, daß das Rechtsleben der
Nationen nicht das Product ihrer Gesetzgeber sei, daß auch in
ihm recht eigentlich der Geist und die Geschicke der Völker sich
widerspiegeln, daß das Recht werde und wachse wie die Sprache,
und daß in jugendkräftigen Völkern sich die rechtsbildende
Kraft am schönsten offenbare. Diese Lehre vom beständigen
Werden und Wachsen, vom schaffenden Antheil des Volksgeistes
entsprach so recht der Grundanschauung der Romantik; sie er
möglichte, ja sie. forderte ein liebevolles Aufmerken auf die
ganze sprossende und knospende Erscheinungsfülle des geschicht
lichen Lebens und sie wurde somit der fruchtbarste Boden der
historischen Wissenschaften. Den jungen Studenten hat sie zu
nächst die Jurisprudenz versüßt und bald auch das eigenste
Arbeitsfeld erschließen helfen. Nichts lag für sie, die das
Elternhaus mit warmer Heimathsliebe ausgestattet hatte, näher,
als jenen Glauben an ein Jugendalter der Völker auch im
eigenen Vaterlande bestätigt zu finden Der Hinweis auf die
Sprache war bei Savigny selbst gegeben, auf die Poesie des
Mittelalters hatten die Dichter der Romantik und erst eben
wieder Tieck ihren Blick hingelenkt, und nun gab Savignys
Bibliothek und die Reise Jacobs nach Paris im Jahre 1805
Gelegenheit, sie im Gewände der alten Sprache, ja in den ehr
würdigen Pergamenten selbst kennen zu lernen.
Dieser Pariser Aufenthalt Jacobs hat für beide Brüder
die größten Entscheidungen ihres Lebens gebracht: in dem
Handlanger Savignys erstarkte die gelehrte Stimmung zum
wissenschaftlichen Trieb, die fremde Umgebung ließ den Reiz
der heimischen Vorzeit doppelt stark auf Jacobs Geist wirken,
und die erste Trennung von dem geliebten Bruder weckte den
Entschluß, mit ihm fürs Leben vereint zu bleiben. Nach der
Heimkehr begannen beide die regsamste Beschäftigung mit dem
poetischen Nachlaß der deutschen Vorzeit und bald auch mit
jener ungeschriebenen Poesie des Volkes, in der das Alterthum
fortzuleben schien. Die westphälische Occupatio» und das schwer
empfundene Unglück des Vaterlandes ließen diese Studien wie
eine heilsame Flucht erscheinen; als Bibliothekar König Jeromes
stärkte Jacob Grimm aus alten Handschriften und den Ueber
lieferungen der Gegenwart seinen Glauben an die unversiegbare
Jugendkraft und die nahe Wiedergeburt seines Volkes. Eben
in jenen Jahren des nationalen Elends sind die frühesten
Arbeiten der Brüder Grimm ans Licht getreten: ihre ältesten
Beiträge zu gelehrten Zeitschriften tragen die Jahreszahl 1807,
auf den Kasseler Weihnachtstischen von 1812 lagen die ersten
Exemplare der „Kinder- und Hausmärchen" (Bd. I), und an deren
zweitem Bande schrieb Wilhelm, während die russische Ein-
guartirung im Nebenzimmer lärmte und der Athem der Be
freiung durch seine Seele zog.
Langsam verdichtete sich die ausgebreitete Lectüre und
Sammelthätigkeit der Brüder zu festen litterarischen Plänen.
Der größte galt einer Geschichte der altdeutschen, ja der ge-
sammten mittelalterlichen Poesie, ausschließlich unter dem Gesichts
punkt der Stoffe. Also eigentlich eine Sagenkunde des Mittel
alters, nicht das was wir jetzt unter Litteraturgeschichte verstehn.
Das ist für die romantische Strömung und insbesondere für
Jacob Grimm hervorragend charakteristisch: die einzelne Dichtung
als Kunstwerk, nach Sprache, Form und Composition, ihre
Bedingtheit und ihr Weiterwirken interessiren ihn wenig, die
Person des Verfassers tritt für ihn ganz zurück. Zeitlebens
hat er sich mehr daran gefreut, die stofflichen Zusammenhänge
zu ermitteln und die zarten Wurzelfäden aufzudecken, welche
jede Einzelerscheinung mit dem Mutterboden verbinden, als das
Individuelle und Eigenartige zu erfassen; ja selbst die Epochen
scheinen ihm unter diesem. Gesichtspunkt leicht ineinander zu
fließen. Diese Grenze seiner Forschungsweise theilt Jacob Grimm
mit Savigny, und sie begreift sich bei beiden ans dem Protest
gegen den Nationalismus mit seinem Aufblähen des Alltags
menschen, — aber sie bleibt eine Schwäche und sie ist der Grund,
warum er, der sonst auf allen Gebieten unserer jungen Wissen
schaft wahrhaft schöpferische Großthaten vollbracht hat, nicht
auch ein großer Litterarhistoriker geworden ist. Eine glück
liche Ergänzung fand er gerade hier durch den Bruder.
Für Wilhelm Grimm gewann das Studium der künstlerischen
Individualität und der Knnstmittel einen immer erhöhten Reiz;
aus ihn hätte Goethes Dichtung und Wesensart sicher auch ohne
das günstige Geschick der persönlichen Begegnung einen stärkeren
Einfluß gewonnen, als auf Jacob, und nicht zufällig schweifen
seine Interessen öfter auf das Gebiet der bildender! Kunst und
ihrer Geschichte hinüber. Er gehört rieben Karl Lachmann, au
dessen Vorbild er seine Arbeitsweise geklärt haft und neben
Ludwig Uhland zu den Begründern der altdeutschen Litteratur
geschichte.
Jene stofflichen Interessen waren es vorwiegend, rvelche
die Brüder das Aufsuchen von Märchen und Sagen mit dem
Studium der alten Handschriften verbinden ließen. Die um
fassend gedachte Poesiegeschichte ist nicht zu Stande gekommen,
aber die beiden gelehrten Werke, die spät noch aus ihren ausgereif
ten Vorarbeiten ans Licht traten, Wilhelms „Deutsche Heldensage"
(1829) und der „Reinhart Fuchs" Jacobs (1834), zeigen in
ihrem Reichthum wie in ihren Fehlern den großen Zusammenhang
jener Studien. Ihr kostbarstes Ergebniß aber sind und bleiben
die Märchen, von beiden Brüdern gemeinsam unternommen,
später mehr und mehr der Obhut des Jüngern anvertraut; hier
ist die Pietät, mit der alles Wesentliche des Inhalts und der
Ueberliefernngsform bewahrt wird, gleich rühmenswerth, wie
der feine künstlerische Tact, der das Zufällige fernzuhalten weiß.
Nach dem Erscheinen der „Deutschen Sagen" (1816—1818)
stellten die Brüder sich mehr und mehr gesonderte Aufgaben,
und nur noch einmal sind sie, vierzig Jahre nach den „Märchen",
mit einem größeren Werke vereint vor das deutsche Volk ge
treten: mit dem „Deutschen Wörterbuch". Wilhelm, der es liebte,
einen Gegenstand möglichst zu erschöpfen, und der seine Schriften
gern sauber ausgestaltete, ist in der Wahl der Vorwürfe meist
bewährter Neigung gefolgt, bei Jacob haben kräftige Anstöße
und rasche Entschließungen mehr als einmal den Kurs geändert
und das Ziel verrückt.
Von diesen Abschweifungen hat ihn eine in unbegreiflich
kurzer Zeit zu der größten wissenschaftlichen That seines Lebens
geführt, vielleicht der größten Einzelleistung, die je auf dein
Gebiete der Geisteswissenschaften vollbracht wurde, zur „Deutschen
Grammatik," das will sagen: zur Schaffung der historischen
Sprachwissenschaft!
In der rastlosen Arbeit eines immer auf's Stoffliche ge
richteten Litteraturstudiums hatte I. Grimm seither nicht Zeit
gefunden zu einer gründlichen Erlernung der alten Sprache nach
ihrer zeitlichen und örtlichen Verschiedenheit. Die Erkenntniß
dieses Mangels konnte ihm nicht dauernd verborgen bleiben,
und sie ward ihm überdies durch herben Tadel nahegerückt.
Seit dem Herbst des Jahres 1816 hat er dann mit festem
Entschluß seine eiserne Arbeitskraft an ein umfassendes sprach
liches Studium aller ihm erreichbaren Quellen des germanischen
Schriftthums bis zum Ausgang des Mittelalters herab gewendet.
Schon ein Jahr später waren seine gewaltigen, sauber geschiedenen
Sammlungen so weit, daß er an die Ausarbeitung denken konnte,
und im März 1619 erschien der erste Band der „Deutschen
Grammatik," wie dieser Sprachentempel aller germanischen
Stämme stolz und bescheiden zugleich überschrieben war.
Das Werk muß den Zeitgenossen, und gerade den urtheils-
fühigsten, wie ein Märchen erschienen sein: man hatte einen
Lehrling heimgeschickt, sich ein vergessenes Handwerksgeräth zu
holen, und nun stand der Meister grüßend an der Pforte seines
Wunderbaues: „Tretetein, auch hier sind Götter!" Mit einem
Märchenbau hatte das Werk freilich einstweilen auch das ge
meinsam, daß ihm der rechte Unterbau fehlte: die Gestalt der
Wörter war in wunderbarer Klarheit ans einem imponirenden
Stoffreichthum heraus dargestellt, aber es fehlte die Betrachtung
der Wortelemente, der Sprachlaute. Doch der das am ersten
erkannte, der es beim Abschluß dieses Bandes längst wußte,
war der Meister selbst, und so bringt denn 3 Jahre später die
zweite Auflage des I. Bandes einen völlig neuen Aufbau und
eine abermalige Erweiterung des sprachgeschichtlichen Horizonts,
die sich durch eine Aufzählung der grundlegenden Einzelerkennt
nisse nur annähernd charakterisiren läßt. Eine gering geachtete
Schul- und Hilfsdisciplin, um die sich Schulmeister und Philosophen
stritten, war mit einem Schlage zum Rang einer historischen
Wissenschaft emporgehoben, deren methodische Quellenbenutzung
vorbildlich für eine ganze Reihe älterer Geisteswissenschaften