© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 48
Über die Kirnst in England. Von German Hetferich
Bonneorlle (Savoyen), von Z. ITC. w. Turner
Erinnerung noch einmal aufgeboten, erhalten einen gleich
förmigen Anstrich des Schillernden, einen fast widrigen
Aufputz der Feerien in Ausstattungsstücken: Sie hinter
lassen keine Spuren.
„Raketen rauschten auf, Kannonenschläge donnerten,
Leuchtkugeln stiegen, Schwärmer schlängelten und platzten,
Räder zischten, jedes erst einzeln, dann gepaart, dann alle
zusammen, und immer gewaltsamer hintereinander und
zusammen." Dies ist die beste Beschreibung eines Feuer
werks, die mir bekannt ist, sie ist ans den Wahlverwandt
schaften; wenn man dazu sich vorstellt, wie Eduard mit
lebhaft zufriedenen: Blicke diese feurigen Erscheinungen
verfolgt, Ottiliens zartem, aufgeregtem Gemüt dieses
rauschende blitzende Entstehen und Verschwinden eher
ängstlich als angenehm ist, danach die Nacht wieder in
ihre Rechte tritt und lediglich der Mond den Rückweg
der beiden beleuchtet, so kann das wohl ein poetisches
Bild von dein exzentrischen Glanz und dem schnellen Er
loschen der Turnerschen Wirkungen gewähren. Seit ich
den Passus über Turner angefangen, fühle ich meine Un
zulänglichkeit, ihn zu verkörpern; ich greife darum zum
Mittel entlehnter Poesie, zu jcttctt packenden Worten
Goethes, die mir seit dem Beginn im Kopfe klingen.
Schließlich kann Kunst ja nur durch Kunst gedeutet werden;
Turner in kritischer Prosa beschreiben sollen, ist wie ein
Ausdruck einer Flamme int Linienumriß, oder wie eine
Besprechung der Schweizerlandschaft von Giron in Paris
durch Richard Paul.
Turner starb, sozusagen zufällig; auf einer der Reisen,
die er, ohne Ziel und Dauer den Freunden anzugeben,
unternahm und auf denen er Stndienzwecke verfolgte. In
einem Häuschen an der Themse, zwischen Cremone Gardens
und Chelsea Bridge, im Dezember, bei einer Wirtin, der
er gesagt hatte, er hieße Brooks, und in unansehnlicher
Kleidung. Begraben wurde er als ein großer Meister
der englischen Schule int Gewölbe der St. Paulskirche,
an der Seite von Sir Joshua Reynolds, ihrem vor
nehmsten Ahnen.
Turner ist in diesen Skizzen
ein größerer Raum geworden,
als die Proportion rechtfertigt,
mit der er an der Entwicklung
der englischen Kunst beteiligt ist.
Ich verweilte bei ihm so lange,
weil er jedenfalls eine der
eigenartigsten ihrer Gestaltett
ist und weil, in betreff seiner,
meine Meinung von der all
gemeinen so sehr differiert, daß
ich ein wenig ausführlich sein
mußte, um sie aufzustellen. Im
Zusammenhang der Kunstent
wicklung ist er von geringem
Einfluß. Es ist kein Weg von
ihm zurück zu den Alten der
englischen Kunst, und kein Weg
von ihm her zu den Neuen.
Er hat Schülern nicht genützt,
und Nachahmer, glücklicherweise,
nicht gefunden. Er ist ein
Phänomen. Constable aber steht
in mächtigem Zusammenhang
mit der Entwicklung; wohl
eine Kuppe für sich, aber aus bereits bergigen Land
sich erhebend. Vor ihm war in England Landschaftsmalerei
aus Kunst, weniger auf Natur gegründet; er nahm sie, wie
sich Walter Armstrong treffend ausdrückt, von ihrem Piede-
stal und setzte sie auf den Boden. Er leitete seine Kraft
aus der Erde um ihn her ab; seine Vorgänger konnten
ihn lehren, wie zu sprechen sei; doch die Natur lehrte
ihn, was er zu sagen habe. Gainsboroughs liebe, der
Natur nahestehende Landschaften sind von glücklicher Vor
bedeutung; Crome, namentlich der ältere, bringt die Kenntnis
der Holländer hinzu, spiegelt dieselbe in sehr schönen Wald-
und Feldbildern von maßvollen Gobelintönen: und Con
stable greift kraftvoll alles auf, was ihm gelehrt werden
faitn, wählt die Erfahrung voit den Cromes, das Naive von
Gainsborongh und steht selbständig, schäumend fast von
Frische und fast zu mutvoll im Grünen, — frei, doch
der Natur gehorsam — da; ihm zur Seite der kleinere
Bonington; leise beginnt ein Manierismus. Aber starke
Fäden reichen von Constable herüber bis in die Gegenwart.
Turner ist abseits geblieben, es ist kein Hauch der
Befruchtung in seinen Landschaften gewesen. Sie zünden,
wenn man vor ihnen steht, aber sie taugen nicht um
Neues zu entzündet:. Turner hätte nicht zu sagen ver
mocht, wie Constable in einem seiner Briefe: Was! immer
die alten Bilder ansehen! niemals das Feld, das Gras, die
Sonne? Immer die Galerien, und nie die Schöpfung?
— Oder in einem andern eine Naturschilderung aus den:
Frühjahr: Die Natur erneuert sich, alles grünt, alles
blüht, alles erheitert sich rings um mich her; auf jeden:
Schritte höre ich Worte der Schrift! . . . Dieser
Enthusiasmus für die Schöpfung, dieses Neligionsgefiihl
vor der Natur in ihren Grashalmen ist der englischen
Kunst schönstes Teil; selbst den Präraffaeliten geht es so
leicht und klar — und mühelos — nicht zu. Sie sind
zunächst von Gedanken angeregt, sie begründen sie in
lvissenschaftlicher Art, sie gelangen auf ihre Art zu
denselben Schlüssen, :u:d sie werden, wie wir sehen
werden, noch bedentnngsreicher, weil sie sich zu u:n-
Über die Kunst in England, von fjcrman Helferich — pariser Briefe, von 0tto Brandes
l6y
fassender Wirksamkeit rüsten und
eine famose Polemik führen;
aber bei Constable singen die
Nachtigallen die Polemik, ltnb
rauschen alle Blätter von
Natur, die weißen Wolken ver-
künden es, daß ihre Schönheit
die einzige von ewigen: Be
stände ist, und in: lebendigen
Wasser an den frischen Wiesen
entlang, unter schattigen Bän-
itteii dahin, wo sich Tiere und
Menschen ergötzen, predigt es
jede einzelne Welle.
Pariser Briefe
von Gtto Brandes
ente habe ich Ihnen zwei
bedeutende Ereignisse aus
der hiesigen Kunstwelt zu mcl-
den. En: erfreuliches und ein
trauriges, das Zusammentreten der »peintres graveurs«
zu einer Separatausstellung und den Tod Meister Ca-
banels. Es hat Sie vielleicht Wunder genommen,
daß ich Ihnen nicht über die vor vier Wochen statt
gehabte Ausstellung der 33 berichtet, eine Künstler-
genosscnschast, die sich ::ach der Analogie der Brüsseler 22
gebildet und sich die Aufgabe gestellt hat, kleinere Bilder,
die in der im Salon ausgestellten Fülle größerer Arbeiten
verschtvinden, dem Publikun: vorzuführen. Mein Gott!
die Geschichte war trotz der Uhdeschen Ährenleserinnen
und einiger Elliotscher im vollen Sonnenlicht genmlter
Bilder nicht sehr tröstlich und machte mir den Eindruck,
als ob es sich vielmehr darum handelte, einzelnen Künstlern,
die ich hier lieber nicht nennen will, die Möglichkeit zu
bieten, vor das Publikum zu treten.
Die Ausstellung der »peintres graveurs« ist jedoch
etwas Bedeutendes und Eigenartiges. Bis jetzt wurde die
Schtvarzkunst hier nicht als selbsterfindende Kunst, sondern
mutier als in gewisser Abhängigkeit von der Malerei
stehend angesehen. Die Gravürenabteilung des „Salons"
brachte zwar sehr schöne »epreuves« aller Gattungen
der reproduzierenden Kunst, aber nur selten hatte man
Gelegenheit, originelle Stiche oder Radierungen, die
uns die ganze Eigentümlichkeit des Künstlers in Erfindung
und Verfahren zeigten, zu bemerken. Mir ist in den
vielen Jahren, seitdem ich den Salon besuche, nur Des-
b out in und LH er mitte aufgefallen, die nach eigenen
Zeichnungen Arbeiten ausstellten. Nicht daß es an Vor
bildern gefehlt hätte. Ich brauche hier gar nicht auf
Rembrandt, Dürer, van Dyck, Ostade, Hogarth u. a.
zurückzugreifen, Frankreich selbst besitzt deren ja! Die Reihe
derselben, aus der ich nur Claude Lorrain, Saint-Aubin,
Prud'hon bis zu Paul Huet, Celestin Nanteuil, Meryon,
Daumier erwähne, ist selbst lang. Woran es hier gefehlt
hat, das ivar das Publikum, ivelches für diese Kunstrichtung
ein Interesse bezeugte und derselben die nötige Auf
munterung zu teil werden ließ. Die Arbeiten der hiesigen
Künstler gingen meist nach England und Amerika. Die
Ausstellung ist daher das Produkt eines gewissen nationalen
Thun (Schweiz), von I. KT. U). Turner
Selbstgefühls und soll das Interesse der eigenen Lands
leute erzwingen.
Die Künstler haben zeigen wollen, daß sie, wie ihre
Vorvordern, auf den verschiedensten Gebieten der Kunst zu
Hause und daß sie in deren verschiedenen Manifestationen,
sich selbst gleichbleibend, immer eine Individualität in
der Erfindung und der Technik zum Ausdruck bringen.
Diese Beobachtung kann man leicht anstellen, da eine
Anzahl derselben neben ihren »Epreuves« auch Bilder aller
Art ausgestellt haben.
Es sind 27 französische Künstler und einige Ameri
kaner, Engländer und Holländer, die der Katalog auf
weist. Man sieht, die Zahl der Aussteller ist nicht groß,
auch fehlen einige hervorragende unter ihnen wie Rops,
dennoch ist das Material ein reichhaltiges, verschieden
artiges, interessantes und zum Teil bedeutendes. Am meisten
aufgefallen sind mir Desboutins ausdrucksvolle Charakter
köpfe, vor allem sein „Mann mit der Pfeife", ein Selbst
porträtstich, der ihn berühmt gemacht hat, Goeneutte
mit einer Reihe feinbeobachteter, technisch vollendeter Stiche,
ivie das „Duo", die „Grille" und einer Anzahl Pastells,
von denen die in das Bad steigende nackte Frau vollendet
modelliert ist— Tissots, dieses Beobachters der Frauen
welt, Stiche und Radierungen, des skeptischen Sirouy
Lithographien, von denen die des Menschen suchenden
Diogenes, dem ein Knabe zwei Figuren — Floquet
und Boulanger — vorhält, besonders amüsant ist, Rodin,
der bekannte Zola der Bildhauerei, mit verschiedenen
Radierungen des Porträts Viktor Hugos. Vor allem
dann auch Felix Buhot mit seiner Radierung eines
Pariser Fiakerstandes, ferner Albert Besnard mit seinen
schönen Radierungen zu dem Dumasschen Romane „Affaire
Clemenceau", der Pferdemaler John Lewis Brown
mit verschiedenen Radierungen, Serret mit seinen Stichen
aus der liebevoll beobachteten und poetisch zur Darstellung
gebrachten Kinderwelt, Fantin Latour, ein Wagner
schwärmer, der auf dem Steine die Personen, wie sie
ihm durch die Musik des Meisters erscheinen, fixiert, aber
auch Brahms und seinen großen Landsmann Berlioz in
Ule Huuü für Alle IV