© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 48
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Mer die Kmift in England
Rasse. Und das macht bei uns das konträre, romantische
Blut. Sie sind klassisch, und klassisch sind sie gut, aber
wenn sie romantisch werden, werden sie kindisch. Dann
glauben sie, es wäre etwas Ungeheures damit ausgesprochen,
daß sie die römische Klassizität vorher abstreiften, (die wir
gar nicht gelten lassen), das wäre ein Wagnis ohnegleichen,
eine That ohne Beispiel. Und sie rennen dann die
offensten Thüren mit den längsten Lanzen Don Quixotes
ein. Sie wundern sich über ihren Scharfsinn, wenn sie
die Entdeckung machen, daß die Ecole de Rome eine
römische Schule ist. Und eine Mücke, wenn sie nur un
regelmäßige Beine hat, würde ihnen, wenn sie aufgeregt
sind, schon als Mücke von romantischer Gestalt er
scheinen. So sehr imponiert ihnen die Unregelmäßigkeit,
die bei ihnen eine Rarität ist. Wir, nous autres Alle-
mands, müssen uns freilich beugen, wenn cs den Stil der
Klassizität betrifft, darin haben wir nichts ihnen entgegen
zusetzen; aber in der Romantik sind wir Spezialisten.
Wir haben die ganze Tradition derselben, und eine so
große Phantastik liegt hinter uns, lind wir sind darin
abgebrühte Kenner und wir finden vieles schon hergebracht,
über das sie sich immer noch zu wundern anfangen. Das
ungewöhnlich erscheinende bietet ihren Schriftstellern ein
umso ausgiebigeres Feld der Klopffechterei, als es den
Lesern in Frankreich ein unbekanntes Land ist. Sie er
heben sich entweder für oder gegen den Gegenstand und
in keinem Gebiete sind vielleicht gleich große Übertreibungen
bei ihnen zu Tage getreten. Wie sie Turner überschätzen,
wird auch E. T. A. Hofsmann bei ihnen mehr gelesen,
oder jedenfalls mehr geschätzt, als bei uns und ein
Franzose, der Romantiker ist, ist nicht mehr im Besitz
jener durchsichtigen Klarheit, die die Franzosen auszeichnet,
welche ihrer Rasse treu bleiben. Sie verlieren ihr Bestes,
wenn sie abirren. So bilden sie Pendants zu unserm
Turner.
Warum unter den Engländern Rliskin, der gewaltige
Lehrer des Volks, dessen Schultern die ganze Kunst
bildung der Nation tragen, der in herrlichen Gedanken
der Natur und nur der Natur, der Aufrichtigkeit und nur
der Aufrichtigkeit das Wort redet — und welches Wort!
er ist vielleicht oratorisch der größte Kunstschriftsteller der
Zeit — warum Nuskiu vor Turner all seiner Voraus-
setzungen zur Kunst sich entledigt und ihm eine ungemesscne,
enthusiastische Bewunderung trotz Turner zollt, würde ich
nicht begreifen können, wenn ich mir nicht sagte, erstens,
daß auch Ruskin schließlich ein Engländer ist, der seine
goldensten Worte int Nebel sprechen muß, und zweitens,
daß einmal ganz abnorm es an jeglicher Logik fehlen zu
lassen, als Vorrecht Jener gelten darf, welche selten irren.
Es ist nicht leicht, sich Tttrncr schnell zu entziehen.
Hat man lange vor seinen Phantasmagorien gestanden,
ist der Blick geblendet; wollte man nach ihnen die puren
Klassiker aufsuchen, wäre man schlecht gestimmt sie auf
sich wirken zu lassen; wie denn auch kein Konzertdirektor
nach einem Berlioz uns Mozart auftischen würde. So
bald man aber nach Turner zu Rembraudt geht, kann
man von Rembraudt wieder zu jedem Klassiker gehen,
man ist, als ob man wieder Brot gegessen hätte, dann
im stände, auch einfacheren Speisen frische Reize abzu
gewinnen. Das macht, weil Rembraudt, der charmante
Maler, sofort aus Turners eigenem Felde ihm gegenüber-
treteu kann und ihn schlägt, und weil Rembraudt, der
große Mann, mit den andern großen Männern durch
das Fühlen nnb das Menschliche, durch die ewigen Güter,
sich verbindet. Turner aber ist nur Charmeur. Und
das legt sich daun sofort auf die Seele, wenn es einem
gelungen ist, ihm den Rücken zu kehren. Das letzte, das
Kunstwerke besitzen müssen, fehlt ihm. Ich kann es einem
Deutschen vielleicht am verständlichsten machen, wenn ich
sage, daß zuweilen die Turnerschen Bilder, zumal wenn sie
kleinere Aquarelle sind, wohl einen Gedanken an Ed. Hilde
brand erwecken, der schlankweg Tropen malt. Was fehlend
ist, haben sie gemein, worin sie exzellieren, darin ist Turner
unendlich größer. Vielleicht verhält sich Hildebrand zu
ihm in einer Proportion, wie sich zu Byron — allein
im „Weltschmerz" meine ich — Heinrich Heine verhält:
heute noch genießbarer, aber unbedeutender.
Ich würde eine sehr schlechte Charakteristik geben,
wenn ich beim Lesenden einen Glauben zuließe, Turner
wäre ein dem Flitter, dem Schein nachjagender Mann
gewesen. Das ist durchaus nicht, er ist ein prachtvoller
Mensch. Völlig gewichtig und gediegen, ehrenfest, fast
Philister. Und Philister, wenn sie eine große Sache auf-
genommen haben, sind eine herrliche Menschenklasse; Old-
England hat gerade unter ihnen Männer gefunden, auf
welche es mit dem gerechtesten Stolz blicken darf. Über
haupt ist der „Künstlerschlag" im alten England ein völlig
anderer, als bei uns, oder gar als in Frankreich. Vielleicht
eben weil sich so selten bei ihnen Künstler willig finden,
sind diese wenigen dann auch immer auserwählt. Im
frühereu Eugland köunte von einer Überproduktion auf
diesem Gebiet nicht gesprochen werden; heute freilich ist es bei
ihnen anders geworden und die moderne Kunstülntng bei
ihnen unterscheidet sich darin nicht mehr von der kontinentalen.
Vormals waren aber die wenigen Künstler,' die sie hatten,
immer nterkwürdige Menschen; Leute, die, weil sie sich
eutschlossen hatten, den ungewöhnlichen Beruf zu ergreifen,
auch immer auf etwas Wesentlichem für solche Wahl
fußteu, jeder etwas Besonderes mitzuteilen halten. Sie
waren allesamt interessante, und nicht bloß interessante,
auch immer charaktervolle Persönlichkeiten. Unter allen
älteren namhafteren Künstlern ist vielleicht nur einer, der
in nicht geordneten Verhältnissen lebte: George Morland,
ein Pferde- und Kneipenmaler, der 1804 starb.
Bei Turner ist das gute Philisterium nun natürlich
mit Wunderlichkeit verquickt, Wunderlichkeit schließt das
Philistertum nicht ans; es könnte ein E. T. A. Hoff
mannscher Held ganz gut Philister sein; ich bedauerte
sehr, Turners Haus nicht mehr sehen zu können, es ist
niedergerissen; in ihm hat er die letzten vierzig Jahre
seines Lebens verbracht. Es ist nicht unnütz zu Turners
Charakteristik, den Leser hineinzuführen. Turner war
griesgrämig und unverheiratet; nicht eben leicht, zu ihm zu
gelangen. Er besaß eine Haushälterin, die ihn vor un
gewünschten Besuchen sicherte, noch griesgrämiger als er.
Der Herr Gillot wollte einst zu ihm — selber ein Ori
ginal, ein Mann, der fleißig mit seiner Frau arbeitend,
sich von einem kleinen Handarbeiter zu einem der großen
Industriellen von Birmingham gemacht hatte, nun sehr
reich war, viel für Bilder und seltene Pflanzen und alte
Geigen ausgab und zum »favorite joke< erwählt hatte:
das beste jeder Sache ist eben gut genug für mich —
dieser Herr Gillot kam in Turners Wohnung mit der
Hoffuuug, ihn zu bestimmen, daß er ihm von seinen
Bildern verkaufe. Denn Turner war sehr schwierig und
trennte sich nicht leicht mehr von ihnen, wenn er sie cin-
l
Fm Wye (Wales), von F. M. w. Turner
mal von der Akademie-Aus
stellung hatte unverkauft zurück
nehmen utüssen. Gillot schlug
an dem Thürklopfer Lärm, der
bei den alten Häusern die
Glocke ersetzt, die Haushälterin
öffnete itt der Weite ihres Ge
sichtes und Herr Gillot, ein
Stratege, drang mit dem Fuße
in den entstandenen Spalt ein.
Die Dame sagte, Herr Turner
ist sehr beschäftigt und em
pfängt niemanden; Herr Gillot
versuchte sie weicher zu stimmen,
und zu der Debatte kam Turner
hinzu. Ich bin Gillot, sagte
der Fremde, ich komme von
Birmingham, um Ihre Bilder
zu sehen.
— Der Stahlfedermacher
Gillot? fragt Turner. — Ja.
— Was verstehen denn Sie
von Kunst?
— Genug, um die Ihrige
zu lieben.
— Turner (etwas geschmeichelt): Ja, aber, Sie
können jetzt keine Bilder bei mir kaufen. — Das weiß
ich auch, ich will nur welche mit Ihnen tauschen. —
Tauschen? Haben Sie Bilder? — Ich habe meine Bilder
in meiner Tasche, sagte der Stahlfedermann und zog eine
Handvoll 1000 Pfd.-Sterlingnoten gleichmütig hervor. Über
diesen Humor begann deut alten Turner ein Lächeln bei
zukommen und der eine richtige Engländer gewann Gefallen
am andern; »You 're a rum chap, come in and have
a glass o’sherry 1« Ich stelle mir vor, wie das C. Keen,
vom Punch, gezeichnet haben würde.
Es würde zu weit führen, mit allen Delikatessen
diese behagliche und autenthische Geschichte — Gillots
Biographie in »Old-Yorkshirec bringt sie — weiterzu
spinnen. Genug, allmählich entwickeln sich die Meinungen,
Gillot ist kauflustig, lenkt seine Augen auf dies, auf jenes,
Turner bleibt ablehnend. Schließlich fragt Gillot, immer
mit ausgestreckten Banknoten, kommen Sie, ich will sie
mit Ihnen, für diese zwei Bilder tauschen. »No thank
ye, ril never sell’em... ich will sie nie verkaufen. Sie
waren in der Akademie billig zu haben, kor a couple o’
hundert apiece... jedes zu 200 Pfd.-Sterling, aber die
Presse made sun of em, and wrote ’em down... schrieb
sie nieder, und nun nohody shall have ’em, soll sie
niemand haben! Nun sah Gillot an den Wänden auf
nnb nieder und sagte, gut, Mr. Turner, und was wollen
Sie für das Ganze haben... »kor the lot« — ohne diese
beiden? O, ich brauche sie nicht verkaufen und ich will
nicht weniger als 35,000 Pfd.-Sterling nehmen, sagte
Turner, indem er hoffte, damit (es sind 735,000 Mk.)
seinen Besucher abzukühlen, doch ging jener darauf ein
und zählte ihm die Noten still auf bett Tisch. Turner
wurde es bänglich, er wies alles zurück und überließ nur
einige der Bilder, für die er selbst Preise und zwar sehr
niedrige festsetzte, nach langem Zögern dem Besucher. Ist
das nicht ein köstlicher Mensch? — Alle seine Bilder
und sein Vermögen vermachte er dem Staate und den
Kunstanstalten, das Vermögen wurde auf 2,800,000 Mk.
geschätzt; Passionen hatte er nicht außer der für die Kunst.
Sein Vermächtnis bestimmte, daß seine zwei besten Bilder
in der National-Gallery zwischen zwei Claude Lorrains
hängen sollten; die vier Bilder hängen jetzt zusammen
und die beiden Turnerschen sehen in der That wie zwei
verdorbene Lorrains aus.
Seine ersten Bilder stellte er mit 12 Jahren atls.
Sein Vater war ein Barbier und Perückenmacher in
Maiden Lane, Covent Garden, das ist der Londoner
Viktualienmarkt. Aus deut Herzen der Stadt London
sollte der große Phantast sich loslösen. Man muß ihn
sich als genialen Plebejer denken, verdüstert, mit den:
Spleen der englischen Atmosphäre. Dreimal war er in
Italien, 1819, 1829, 1840. Es drängte ihn nach der
italienischen Helle, seine Plumpheit sehnte sich nach der
Schönheit Claudes; er flog wie eine Motte gegen das
Licht. Viele finden, daß er sich nicht verbrannte; mir
scheint, er hätte für die Landschaft ein Unikum werden
können, wenn er im Norden geblieben wäre.
Übrigens erwärmt würde er uns selbst dann nie
haben. Die beseelte Einfachheit fehlt ihm selbst in den
einfachen Motiven, er greift von vorherein zum grossen
Zauberapparat. Wäre er nicht durch ein großes Genie von
ihnen geschieden, würde er an die Musikschüler des heutigen
Tages denken lassen, die in ihren ersten Kompositionen,
wo sie einfach niesen, nicht umhin können, es mit dein
Aufgebot aller Blechinstrumente zu thun. Aber er ist
wirklich ein großer Pyrotechniker und die Romantik
hat nie einen Vasallen von mehr Bravour gehabt; und
er gehorcht ihren Launen nicht bloß, indem er es ihr
höflich, in Konturen zu erkennen gibt, wie er ihr wohl
gehorchen möchte, tveun er könnte —, sondern er erfüllt in
den Thatsachen, was sie von ihm verlangt, er stellt ihr
volle Farbe und wirkliche Sachen zu Diensten. Nur
Rembrandt kann ihm in dieser Beziehung zur Seite gesetzt
worden. Freilich genügt auch von dem ein Weniges, um
ihn versinken zu lassen; ich möchte sagen, er fällt dann
sofort in ein gewisses Nichts. Seine Werke, vorder